Reine Herzen, Schuld und Sühne

Spricht Anatole France, der Weise:

la vertu n’est pas récompensée parce qu’elle est la vertu, ni le vice puni parce qu’il est le vice. Récompenses et châtiments giboulent sur nous, au collège, et dans le monde, comme la grêle en mars. Ce ne sont point les coeurs purs qui évitent l’averse, mais les gens munis de parapluies.

Jean-Jacques Brousson: Anatole France en pantoufles, Paris 1924, 184.

Aufstand als Existenzkern

Was könnte das für eine Gesellschaft sein, in der Energie darauf verwendet wird, Menschen zu verfolgen, die einen Kaugummi nicht in den Abfalleimer werfen sondern auf die Strasse, die ausspucken oder gar zu schnell fahren?

Offensichtlich eine, in der nicht nur alle genug zu essen haben, sondern auch Kinder nicht misshandelt oder vernachlässigt werden, Frauen treu sind und Freunde nicht weinen müssen, ohne dass man ihnen helfen kann. Eine Gesellschaft, in der alles wohlgeordnet, kontrolliert und sinnhaft erscheint, vom HErrgott selbst für den Menschen liebevoll vorbereitet, ein Ort, wo selbst der Gast seine Schuhe auszieht und vor der Tür abstellt, bevor er eintritt, eine, in der der Müll getrennt und weder geraucht noch zuviel getrunken wird.

Was für eine schöne (neue) Welt. Aber, aber, aber:

Als König Kreon Antigone verbietet, ihren Bruder Polyneikes zu beerdigen, weil der das Vaterland verraten habe, widersetzt sich Antigone mit dem ebenso simplen wie effektiven Satz: “Aber Polyneikes ist mein Bruder!”, einem Satz, der die Essenz des Menschen enthält. Und diese Essenz besteht nicht in der Verwandtschaft oder der Geschwisterliebe, sondern im Partikel “aber”. Denn wenn etwas den Menschen kennzeichnet und definiert, ja auszeichnet, so ist es die Revolte, die Revolte gegen das scheinbar Unabänderlich, die Revolte gegen die Regel, die Revolte letztlich gegen sein Schicksal (vgl. Rage, rage against the dying of the light). Der Anklang an Camus und seinen “L’Homme révolté” ist nicht abwegig.

Egal ob Poesie, Menschlichkeit oder Liebe: Regel und Regulierung sind ihre Feinde. Aber das wissen die Gartenzwerge ja durchaus. Nur ist ihnen eben eine ruhige und sichere Existenz (Leben möchte man das nicht wirklich nennen) lieber, auch wenn sie um den Preis der Kälte erworben werden muss.

Rage, rage against the dying of the light

Und noch ein absolutes Highlight. Auch Dylan Thomas (1914-1953), der walisische Dichter, der sich zu Tode trank, wird bei uns leider viel zu wenig gelesen. Sein vielleicht bestes Gedicht überhaupt:

Do not go gentle into that good night

Do not go gentle into that good night,
Old age should burn and rave at close of day;
Rage, rage against the dying of the light.

Though wise men at their end know dark is right,
Because their words had forked no lightning they
Do not go gentle into that good night.

Good men, the last wave by, crying how bright
Their frail deeds might have danced in a green bay,
Rage, rage against the dying of the light.

Wild men who caught and sang the sun in flight,
And learn, too late, they grieved it on its way,
Do not go gentle into that good night.

Grave men, near death, who see with blinding sight
Blind eyes could blaze like meteors and be gay,
Rage, rage against the dying of the light.

And you, my father, there on the sad height,
Curse, bless, me now with your fierce tears, I pray.
Do not go gentle into that good night.
Rage, rage against the dying of the light.

 

Eulenspiegel

und weil’s so schön war, hier nochmals ein Ausschnitt:

Von seinem Tod berichten vier Überlieferungen:

Nach der ersten wurde er in Sangerhausen von Bauern erschlagen, als er ihnen ihre bevorstehende Niederlage im Kampf gegen die Fürsten wahrheitsgemäss voraussagte und sich weigerte, mit ihnen gegen Mühlhausen zu gehen.

Nach der zweiten entkam er den Knüppeln der Bauern, wurde von den Soldaten des Herzogs von Sachsen in Mühlhausen aufgegriffen und als Späher der aufständischen Bauern im Narrenkostüm auf dem Marktplatz erhängt.

Nach der dritten Überlieferung rettete ihn der Herzog Georg von Sachen, nachdem Eulenspiegel die Bürger der Stadt mit seinen Verrenkungen unter dem Galgen vor Lachen fast um den Verstand gebracht hatte, liess ihn zur Siegesfeier auf sein Schloss bringen und zu Tode kitzeln, als Eulenspiegel kein Witz über die Dummheit der Bauern mehr einfiel.

Nach der vierten entkam er den betrunkenen Fürsten, ginge vier Jahre lang unerkannt durch das Land, die Bauern zur Tötung des Verräters Eulenspiegel aufrufend und wurde schliesslich vor dem Grabstein, den die Bürger der Stadt Mölln dem unsterblichen Clown Eulenspiegel gesetzt hatten, von Kindern wegen der Verhöhnung ihres totgeglaubten Helden erstochen.

Thomas Brasch: Eulenspiegel, in: Vor den Vätern sterben die Söhne, Bibliothek Suhrkamp 1355, Berlin 2012 [urspr. 1977], 123