Nicht weinen, schrie Fastnacht

Ich halte es nicht mehr aus, sagte Frau Fastnacht. Seit du aus Meissen zurückbist, hast du nicht ein einziges Mal mit mir geschlafen. Was ist los mit Dir?

Was soll ich sagen.

Meinst Du, ich weiss nicht, schrie Frau Fastnacht, dass du jede Nacht aufstehst und auf der Toilette onanierst wie ein Zehnjähriger. Ich will nicht nicht darüber reden, sagte Fastnacht.

Aber ich, sagte Frau Fastnacht und begann zu weinen. Wen habe ich ausser dir. Mit wem kann ich denn darüber sprechen. Soll ich es den Frauen im Büro erzählen und dich schlecht machen, wie es die anderen mit ihren Männern tun?

Nicht weinen, sagte Fastnacht.

Nicht weinen, schrie Fastnacht.

Thomas Brasch: Fastnacht, in: Vor den Vätern sterben die Söhne, Bibliothek Suhrkamp 1355, Berlin 2012 [urspr. 1977], 104

wie durch ein Wunder …

“wie durch ein Wunder …” sei dies oder das geschehen, hab’ ich heut’ wieder gehört.
Das heisst einmal, dass überhaupt Dinge durch Wunder geschehen können. Nicht die Dinge selbst oder die Tatsache, dass sie geschehen, sind wunderbar, sondern sie geschehen durch Wunder. Das erscheint in einer aufgeklärt-säkularen Welt primär einmal als phantasievoll und poetisch.

Zum anderen aber distanziert sich die Redewendung eben gerade von der Poesie. Nicht durch ein Wunder geschehen die Dinge (wird ein Kind gerettet, bleibt der prominente Sänger unverletzt), sondern wie durch ein Wunder. Was geschieht, geschieht also gerade nicht durch ein Wunder, sondern sieht nur so aus. Tatsächlich handelt es sich eben um einen völlig “normalen” (also üblichen und alltäglichen) Vorgang, der einzig dadurch einem Wunder gleicht, dass wir ihn nicht erklären können oder (eher noch) dadurch, dass er aussergewöhnlich erscheint, weil er sehr unwahrscheinlich ist.

Entgegen ihrem Anschein wird also durch die Redewendung das Wunder desavouiert, wird auf etwas sehr Seltenes und Aussergewöhliches reduziert, während es doch in Wirklichkeit gerade nichts kausal Erklärbares darstellt, sondern im Gegenteil eine Ausnahme der Kausalität, ja geradezu ihre (nur momentane, damit aber eben auch grundsätzliche) Aufhebung. Das Wunder ist also nicht Wunder, weil es selten ist, sondern weil es einer eigenen Logik, eigenen Regeln folgt bzw. überhaupt ausserhalb Logik und Regeln steht. Das Wunder ist also Ausnahmezustand par excellence, ist sozusagen sein Prototyp.

In der Seltenheits-Perspektive müsste dann eigentlich auch der Tod ein “Wunder” sein, ereignet er sich doch in jedem Leben nur ein Mal (jedenfalls wenn man Glück hat).

Realismus vs. Nominalismus

Ist die Annahme nicht tröstlich, dass etwas, das wir sagen können, auch existieren muss (oder wenigstens existieren können muss d.h. potentiell existiert)? Bedeutet es doch, dass  irgendjemand tatsächlich treu ist, dass es möglich ist, fair zu sein und dass Glaube, Liebe, Hoffnung wirklich bestehen könnten.