Medien, Zeit und Vergessen

Technik ist es übrigens auch, die zum einen das gesellschaftliche Tempo unermüdlich und unerbittlich erhöht, und die zum anderen – und das ist fatal – das Vergessen langsam aber sicher tötet. (Das Netz vergisst nicht. Nichts.)

Eine Welt ohne Vergessen ist aber im Kern unmenschlich, denn zur Conditio humana gehört die Zeitlichkeit, das Vergessen und Vergessen-werden, das Vorübergehen, das Verlust aber gleichzeitig auch Chance darstellt. Symptomatisch erscheint, dass diese unmenschliche Qualität der Technik (insbesondere der neuen Medien) auf die Gesellschaft selbst abfärbt und ihr zunehmend als Desiderat erscheint. Entsprechend werden Unverjährbarkeiten gefordert, immerwährende Register und unbeschränkt dauernde Verbote, im – natürlich ganz sinnlosen – Bestreben, die Zeit anzuhalten.

Medien als Feind des Strafrechts

Erg hat hier eine beredten Nekrolog auf die Unschuldsvermutung gehalten. Stellt sich die Frage, wie aus der Garantie eines fairen Verfahrens eine Bedrohung desselben geworden ist. Unzweifelhaft dürfte sein, dass das Interesse an Sex and Crime einst wohl nicht kleiner war als heute. Auch das Strafrecht selbst bzw. der Strafprozess haben wohl keine fundamentalen Funktions-Veränderungen durchgemacht seit Feuerbach. Eigentlich kann also diese Bedrohung nur auf die Veränderung der Medien selbst zurückzuführen sein. Nur worin bestünde diese Veränderung?

Zu vermuten steht wohl, dass Ursache der Veränderung nicht die Medien selbst oder ihre Funktion sind, sondern schlicht die Technik. Die neuen Technologien bewirken zum einen, dass eine Nachricht praktisch in Echtzeit auf dem gesamten Erdball gleichzeitig verbreitet werden kann. Die Fragmentierung, die einst die Welt in viele kleine lokale Welten unterteilte, ist passé. Es reicht  heute nicht mehr, von Zürich wegzuziehen nach Bern, um als Unbekannter noch einmal von vorne anzufangen.

Zwar gibt es v.a. entlang der Sprachgrenzen noch Unterschiede, und natürlich ist die (medial vermittelte) Welt eine andere in den USA, China oder der Schweiz. Aber das sind eben die Grenzen der Sprach- oder Kulturwelten. Und damit sind es eben auch die Grenzen des Einzelnen (als direkt betroffener Medienstoff). Für ihn oder sie ist es eben genau so schwierig, diese Grenzen zu überwinden. Die Totalität der Medien also ist es, die deren ureigentliches Bedrohungspotential darstellt.

Ideal und Realität

Und nochmals Montherlant (pour gouter ou dégouter) aus den Carnets:

Ce n’est pas la réalité qui est vulgaire, c’est l’idéal.

Hübsch, nicht. Und typisch Selbstmörder erfindet er sich Gründe weiterzuleben (Cioran hatte das mal gesagt, nicht, dass der Selbstmörder sich am Sinn des Lebens erschöpft, weil er sich immer wieder neue Begründungen suchen muss):

4 septembre. – La chair n’est pas triste et je n’ai pas lu tous les livres.

Essentiell misstrauisch bleibt er, dem Geist ebenso wie dem Herzen gegenüber, nur die Sinne verschont er:

Tout ce qui est du coeur est inquiétude et tourment, et tout ce qui est des sens est paix.

Strafverteidigung und die Bösen

Schreibt Henry de Montherlant (1895-1972) in seinen Carnets (vgl. Carnets XXXI, in: Essais, Bibliothèque de la Pleiade, Paris 1963, 1208):

Cet avocat me dit que, jeune, il n’aimait de défendre que les causes qui lui paraissaient justes; mais maintenant celle qu’il juge injustes.

Il me dit encore: “S’intéresser à des enfants, horribles quand ils seront grands; à des malades, horribles quand ils seront guéris; à des combattants, horribles quand ils seront redevenus civils; à des pauvres, horribles quand ils seront tirés d’affaires; à des inculpés, horribles quand on ne les persécutera plus.”

Aber dann muss man fairerweise auch zugeben, dass sich Montherlant mit 77 umbrachte, indem er eine Zyankali-Kapsel zerbiss und sich dazu in den Kopf schoss. Ein recht eigenwilliger und merkwürdiger Mensch also.

Gute Auswirkungen auch böser Strafen

Berichtet Charles Desmaze, in seinen Curiosités des Anciennes Justice d’après leurs registres, Trésor Judiciaire de la France, Paris 1867, 317 f.:

En 1290, une femme de Paris procura à un juif nommé Jonathas une hostie consacrée. Ce dernier, après l’avoir percée à coups de canif, et en avoir vu couler le sang, après l’avoir jetée au feu et l’avoir vue voltiger sur les flammes, la mit dans la chaudière d’eau bouillante, qu’elle rougit sans en être altérée. Une indiscrétion du fils de Jonathas et la curiosité d’une voisine firent connaître cette tentative sacrilège; la voisine recueillit l’hostie et la porta au curé de Saint-Jean en Grève; Jonathas fut arrêté par l’évêque de Paris, avoua son crime, fut brûlé vif, es sa maison rasée de fond en cime.

Und weil es ja schade gewesen wäre, das schöne Grundstück unnütz liegen zu lassen, hat man es einem guten Zweck zugeführt:

En 1294, une chapelle dite la Maison des Miracles, et bâtie par Rainier Flamming, s’éleva sur le terrain de Jonathas; Guy de Joinville y fonda un monastère, agrandi en 1299 par Philippe le Bel; Clémence de Hongrie enrichit ce couvent où Dieu fut bouilli, et en 1685 on lisait encore cette inscription:

Ci-dessous le juif fit bouillir la sainte hostie.

Wie schön, dass Strafverfolgung immer wieder das Gute fördert.