(Un)erwartete Leoparden

Ganz richtig, Epipur. Dazu gibt es eine hübsche Parabel von Franz Kafka

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Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer; das wiederholt sich immer wieder; schließlich kann man es vorausberechnen und es wird ein Teil der Ceremonie.

Überlegungen zum Unerwarteten

Nassim Nicholas Taleb hat uns vor sog. Black Swans gewarnt (siehe: Nassem Nicholas TALEB, The Black Swan, 2nd Ed.., Random House, New York 2010).

Before the discovery of Australia, people in the Old World were convinced that all swans were white, an unassailable belief as it seemed completely confirmed by empirical evidence. The sighting of the first black swan might have been an interestig surprise for a few ornithologists (and others extremely concerned with the coloring of birds), but that is not where the significance of the story lies. It illustrates a severe limitation to our learning from observations or experience and the fragility of our knowledge. One single observation can invalidate a general statement derived from millennia of confirmatory sightings of millions of white swans. All you need is one single (and, I am told, quite ugly) black bird. (S. XXI)

Mit Black Swan meint Taleb ein extrem unwahrscheinliches, völlig überraschendes Ereignis, das schwere Folgen nach sich zieht und im Nachhinein einfach zu erklären ist.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob man das Unerwartete erwarteter machen kann, indem man es erwartet. Die Frage scheint trivial zu sein, sie ist aber von grundlegender Bedeutung.

Der Witz am Unerwarteten ist, dass ein Ereignis immer ex post als unerwartet qualifiziert wird. Wenn man das Unerwartete erwartet hat, so erkennen wir das Unerwartete gar nicht als solches.

Interessanterweise findet die Qualifizierung als unerwartetes Ereignis gerade in einem Moment statt, wo das Ereignis nicht mehr unerwartet erscheint. In der Tat ist das unerwartete Ereignis ex post immer einfach erklärbar und somit nicht mehr unerwartet.

Das Unerwartete ist somit unfassbar. Fasst man es ex ante, so entflieht es (indem wir es nicht als solches erkennen, und indem ein anderes unerwartetes Ereignis möglicherweise passiert); erkennt man es ex post als solches, verschwindet es in dem Moment, wo man es erkennt.

Wenn man endlich etwas Unerwartetes erwartet, so ist das, was man erwartet, so abstrakt, dass es das unerwartete Ereignis gar nicht enthalten kann, weil es gerade jedes unerwartete Ereignis auch enthalten könnte. Nehmen wir ein Beispiel, ich erwarte jetzt etwas ganz Unerwartetes….

Es ist einfach nichts passiert, das hatte ich aber nicht erwartet (!) Q.E.D.

***

Das Unerwartete ist wie das Leben: unfassbar, unberechenbar. Es findet immer nur im Moment statt.

Sex als Verteidigung vor dem Tod

Montherlant zum Sex als einziger Verteidigung vor dem Nichts (natürlich kann man das, der gegenwärtigen Prüderie entsprechend, auch Sinnlichkeit nennen, doch der Text ist radikaler: Carnet XIX, 1930/1931, in: Essais, Bibliothèque de la Pleiade, Paris 1963, 975):

Nous lisons souvent des variations sur : “L’homme ne peut rien pour l’homme. On reste toujours seul.” C’est de la littérature, et fausse. L’homme peut tout pour l’homme. Dans mes poches d’incompréhensible désespoir, au temps des Voyageurs traqués, une demi-heure de plaisir physique, donnée par mon semblable, et le verre de mes lunettes était changé : le monde n’était plus ce monde de suicide où je m’enfonçais depuis des jours. Et qu’est-ce qu’une “solitude” remplie du souvenir et de l’attente de la créature? On est deux ; ce n’est pas une solitude. Je serais prêt à créer une divinité pour pouvoir la remercier de n’avoir jamais été abandonné de ce secours humain de la chair, qui m’a maintenu jusqu’aujourd’hui la tête hors de l’eau.

Je ressasse le mot de Gobineau : “Il y a le travail, puis l’amour, puis rien” (en intervertissant les deux premiers termes). Amour, travail : des passions, ou plutôt, au point où j’en ai besoin, je les appellerais de la drogue. Si la maladie ou des circonstances sociales me privaient à la fois de l’un et de l’autre, que deviendrais-je? Nous retombons sur le suicide.

Erwähnt sei (um es ein wenig komplexer zu machen), dass der erwähnte Joseph Arthur de Gobineau (1816-1882) gemeinhin als Rassist gilt (und auch als Antisemit, was allerdings nicht unbestritten ist), er sicher aber nicht weniger elitär war als Montherlant und damit genauso unzeitgemäss wie dieser. Erwähnt sei auch, dass sich letztlich bei Montherlant der Tod durchgesetzt hat (aber das tut er ja immer), was einmal mehr beweist: Man kann einfach nicht immer vögeln.

Suizid, Statistik, kennen und schweigen

Anlässlich des Freitodes eines Managers in einem Kästchen zu einem Artikel über den Fall wird Thomas Reisch, Psychologe und leitender Arzt an der Universitätsklinik in Bern im Blick zitiert:

 In Studien zeige sich, dass über 90 Prozent der Menschen, die einen Suizid-Versuch überlebt haben, ihre Tat bereuen.

Für etwas, was der Psychologe nicht sagt, braucht es wahrscheinlich nicht einmal eine sehr vertiefte Studie:

0 Prozent der Menschen, die einen Suizid erfolgreich durchgeführt haben, bereuen ihre Tat.

Das wäre doch einmal eine Schlagzeile wert.

Ergreifend auch der Titel des Artikels:

Keiner kannte ihn wirklich

Wie ungewöhnlich. Sonst wird ja gemeinhin jeder wirklich gekannt von irgendwem.

Gemäss selbigem Artikel reagiert das Unternehmen des Toten (es handelt sich nota bene um ein Unternehmen der Telekommunikationsbranche) übrigens einigermassen branchenuntypisch: Mit einer Schweigeminute!