Die Unschuldsvermutung – Ein Nachruf

by | Jul 24, 2013 | Das Ärgernis | 1 comment

Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig – Art. 10 StPO

Das Schweizer Fernsehen pflegt seine Zuschauer zur Sommerzeit seit einigen Jahren mit Verbrechen zu unterhalten. Spannend erzählt, mit Soundbites aller möglichen Nachbarn und Arbeitskollegen von Tätern/Opfern und ermittelnder Polizisten und Strafverfolger, mit erstmals aus der Asservatenkammer gekramten Schwertern und Tatortphotos etc., und mit sachkundigen Erläuterungen eines renommierten Strafrechtsprofessors aus Zürich. Heuer: “Schweizer Verbrechen im Visier”.

Am 24.7.2013 im Programm: “Cronik eines Missbrauchs“, ein Film von Michèle Sauvain. Klingt spannend:

Vor kurzem wurde bekannt, dass ein fachlich hochgeschätzter Schulsozialarbeiter in den vergangenen 17 Jahren in verschiedenen Kantonen mehrere Knaben sexuell missbraucht haben soll. Warum konnte der Mann so lange unentdeckt sein Unwesen treiben, obwohl es immer wieder Gerüchte gab?

Sowohl etwas weiter unter im Werbetext zum Film als auch daselbst nach ca. 5 Minuten der Satz:

Mittlerweile ist der Beschuldigte B. geständig.Wie ist es möglich, dass ein Mensch über 16 Jahre lang Kinder sexuell missbraucht, ohne dass er gefasst wird? Der beschuldigte Schulsozialarbeiter T.B. sitzt seit eineinhalb Jahr in Untersuchungshaft. Vor einer Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung.

Und doch besteht der Film vorwiegend in einer Darstellung dessen, was B. alles vorgeworfen wird. Natürlich mit detaillierter Darstellung von Details (Arbeitsorte, Tätigkeiten, Filmauftritte des Betroffenen, Hinweis auf die von ihm verfasste Kolumne, verfremdete Filmaufnahmen des Beschuldigten), die sicherlich all jenen, die B. kannten – jetzt kennt ihn ja niemand mehr, alle reden nur noch in der Vergangenheitsform über B., als ob er tot wäre – und auch sonst hinreichend Neugierigen eine Identifikation erlauben dürften. Alle möglichen Schulleiter und Nachbarn werden interviewt und sind natürlich erstaunt. Vertreterinnen von Opferberatungsstellen werden interviewt und sind natürlich schockiert.

Und die Polizei? Die sagt zwar nichts zum Fall, natürlich nicht, das darf sie nicht, das ist ein hängiges Verfahren, da sei die Unschuldsvermutung vor, aber Polizistinnen und Polizisten können immerhin durch Milchglastüren schreiten und sagen, wie das denn im Allgemeinen so sei mit Pädokriminellen. Auch ein Herr von der Kobik und eine Doktorandin haben viel zu erzählen über Pädokriminelle im Internet und darüber, wie schwierig die Ermittlungen gegen sie sind.

Es ist nun durchaus von Interesse und eine schwierige Frage, welche Massnahmen zur Vermeidung von Missbrauchsfällen an Kindern getroffen werden sollen und können. Die Bekämpfung der Kinderpornographie im Internet ist ein wichtiges, aber auch – man denke an die Frage der verdeckten Ermittlung – ein sehr heikles Thema.

Bloss: Ist all das jetzt nur ein Thema, weil man es am “Fall B.” aufhängen konnte? Musste sich Frau Sauvain in der Redaktionssitzung anhören, das sei jetzt “wie keine Geschichte”, wenn man keinen konkreten “Fall” habe, dann passe das nicht in die Sendereihe? Sah sie sich schon der Chance beraubt, sich als furchtlose investigative Journalistin zu zeigen, die B. bereits für einen Dokumentarfilm über Jugendliche interviewt hatte, bevor er als Kinderschänder berühmt war, quasi in der Höhle des Löwen? Hätte man mit diesem Film nicht warten können, bis der Fall tatsächlich zu einem “Kriminalfall” geworden wäre, also bis nach einer Verurteilung von B.?

Die Unschuldsvermutung wird jedenfalls zu einer Farce, wenn sie zur blossen Floskel verkommt und irgendwann in einem Halbsatz in einem Film erwähnt wird, der ansonsten der breitestmöglichen Darstellung der Tatvorwürfe gegen einen Beschuldigten gewidmet ist.

Doch in der Kriminalberichterstattung in den Medien steht der Film nicht als Lapsus dar, sondern er spiegelt die Norm wieder: Es gibt wohl kaum  einen Nachrichtensprecher in diesem Lande, der nicht schon nach der detaillierten Darstellung eines Deliktsvorwurfs mit gönnerhaftem Lächeln den Satz eingestreut hätte: “Natürlich gilt in diesem Fall die Unschuldsvermutung”. Und gedacht hätte “…natürlich war er’s, das ist doch klar, und das wissen die Leute auch, jetzt. Aber diese Juristen …”

1 Comment

  1. Titiuuh

    Feuerbach in sein Gegenteil verkehrt: Waren die Medien einst Garanten einer neutralen und fairen Justiz (Stichwort: Geheim- oder Kabinettsjustiz), sind sie heute deren grösste Bedrohung.

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  1. Medien als Feind des Strafrechts | rechtboese.ch - [...] hat hier eine beredten Nekrolog auf die Unschuldsvermutung gehalten. Stellt sich die Frage, wie aus der [...]

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