Nietzsche und das Vergessen

Lektürlich hat Nietzsche zum Vergessen als Fähigkeit und Kunst angeführt. Das ist völlig richtig. Nietzsche sagt das sehr deutlich in den Unzeitgemässen Betrachtungen (1893), und zwar im Stück “Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben”:

Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Tiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholtem Wiederkäuen leben sollte. Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären: es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur.

Autonomie und Tod

Das Problem mit der Autonomie ist, dass sie im Leben schwierig zu erreichen (und noch schwieriger zu bewahren) ist, und man einen hohen Preis dafür zu zahlen hat, wie für alles Wertvolle, während sie sich im Tod fast schon selbstverständlich ergibt, man sie quasi geschenkt bekommt.

 

“Presque tous les hommes sont esclaves, par la raison que les Spartiates donnaient de la servitude des Perses, faute de savoir prononcer la syllabe non. Savoir prononcer ce mot et savoir vivre seul sont les deux seuls moyens de conserver sa liberté et son caractère.”

Mais non sa vie. Chamfort, l’auteur de cette pensée, dit non à Herault de Séchelles qui veut le faire écrire contre la liberté de la presse. Il est arrêté et se tue.

H. de Montherlant, Carnet XX (1931)

Von Aussen betrachtet ist der Tod eine erzdemokratische, egalitäre Angelegenheit (vgl. etwa Gevatter Tod bei den Gebrüdern Grimm [1857], oder Gleichmacher Tod bei Liezi oder Liä Dsi [ca. 450 v.Chr.]); von Innen aber ist er neben dem Schmerz das Individuellste, das überhaupt vorstellbar ist. Wird er nicht empfangen, sondern selbst gegeben, ist er letzte und reinste Verwirklichung von Autonomie, reinstes Nein als Verweigerung der Sklaverei.

Entsprechend verlockend und attraktiv ist er.

Der Text Chamforts (1741-1794) findet sich zusammen mit seinen anderen Maximes et Pensées hier.