Mein wundes Herz

Ganz am Ende noch die Entdeckung des Jahres, für mich jedenfalls (denn ich bin ja ein wenig langsam). Das Amestoy Trio aus Toulouse. Akkordeon, Gitarre und Tuba. Leider gibt’s auf dem Netz die besten Dinge wie “9 Rue de Lappe” oder “Soir de Paris” nicht. Viele können aber hier online gehört werden, und immerhin zwei sehr schöne gibt es auf YouTube:

1. “La steppe”

und 2. “Marinette”

Beide aus dem Album “Le fil” aus dem Jahr 2003. Fünf Jahre später, 2008, ist “Sport et couture” erschienen. Beide Alben auf iTunes erhältlich.

Warum nur, frage ich mich, tröstet das mein wundes Herz? Ist Musik nicht der schlagende Beweis, dass es keinen Inhalt gibt jenseits der Oberfläche? Und ist denn Oberfläche nicht genug?

O Sicherheit, O Fürsorge

Spanien verbietet die sog. E-Zigaretten wie die Medien berichten (hier etwa die NZZ), d.h. elektrische Zigaretten, die Nikotin enthalten und die beim Ausatmen Wasserdampf produzieren. Das Lustige daran ist, dass anders als bei “richtigen” Zigaretten, hier das Argument der Schädigung anderer durch deren Passivrauchen überhaupt nicht sticht. Entsprechend wird denn auch nicht so argumentiert, sondern über die Raucher selbst, die man schützen müsse:

Minderjährige dürfen E-Zigaretten, die flüssiges Nikotin enthalten und beim Inhalieren in Dampf verwandeln, schon seit längerem nicht nutzen. […] Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt vor E-Zigaretten, da ihre Folgen für die Gesundheit unzureichend erforscht seien. (so News.ch)

Und weil die WHO ihre Unbedenklichkeit nicht bestätigt hat, gelten sie als gesundheitsschädlich und dürfen nicht verwendet werden. Jetzt versteht man. Wahrscheinlich hat dann ja eine entsprechende Unbedenklichkeitsprüfung für Junk-Food-Ketten wie etwa MacDonald’s schon längst stattgefunden, richtig?

Oder noch etwas grundsätzlicher: Würde man sich eine solche Unbedenklichkeitsprüfung nicht auch für die Liebe wünschen. Solange sie nicht vorliegt, darf nicht geliebt werden. Und auch hier wäre doch Jugendschutz angezeigt, denn sind es nicht unsere frühesten Liebesbeziehungen, die uns am intensivsten gefährden (denn später lernen wir ja leider, Rüstungen anzuziehen)?

Gnade

Was für ein Weihnachtsfest! Die Königin von England vergibt Alan Turing doch noch sein Verbrechen – schwul gewesen zu sein.

Turing

Siehe 20Min

… noch Ende 2011 blockte das Justizministerium in London einen Vorstoß ab, Turings Verurteilung postum aufzuheben. Die Begründung: Er hätte schließlich gewusst, dass sein Tun zur damaligen Zeit strafbar gewesen sei.

So der Spiegel. Klar: Selber schuld! Aber immerhin: Wenn schon keine Gerechtigkeit, dann wenigstens Gnade. Wie schön. Der Spiegel weiter:

Die jetzige Entscheidung der Queen war laut Grayling erst die vierte Begnadigung durch einen Monarchen in Großbritannien seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Aha. Waren das auch Schwule, fragt man sich? Und hatte Grossbritannien in dieser ganzen Zeit nur 4 Schwule? Und wenn nicht, wer verzeiht dann den anderen und begnadigt sie? Und wie lange wird das bei denen dauern, die keine für das Königreich unersetzlichen Genies waren, sondern nur einfach schwul?

Wir hatten hier die Gnade und ihr Zugehören zu Gott bereits erwähnt. Nicht überflüssig deshalb vielleicht ein Passage aus der Bibel (Hebräer, 12/6 ff.):

6 Denn welchen der Herr lieb hat, den züchtigt er, und er geißelt einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt. Wenn ihr Züchtigung erduldet, so behandelt euch Gott ja als Söhne; denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt? Seid ihr aber ohne Züchtigung, derer sie alle teilhaftig geworden sind, so seid ihr ja unecht und keine Söhne!

Wieviel Trost doch Schwule (aber auch andere ungerecht Behandelte) in der Religion finden könnten, wenn sie nur wollten.

Das bürgerliche Leben

Daniel Kehlmann: Die Lichtprobe. In: Lob. Über Literatur. Reinbeck b. Hamburg, 2010, 180.

Natürlich sehnte ich mich nach anderen Möglichkeiten und danach, mehr als ein Leben zu führen, alle Kinder tun das, werden sie erwachsen, verdrängen sie es, es sei denn, sie werden Schauspieler oder sie schreiben

Aber wie das eben mit dem Verdrängen so ist, das klappt nicht so richtig. Dies ist es, was die bürgerliche Existenz so “unstimmig” macht, so “verstimmt” klingen lässt: sie geht nicht auf, fühlt sich irgendwie falsch an. Und selbst die, die sich ihrem Diktat vorbehaltlos unterwerfen, passen nicht so richtig hinein, denn Menschen sind nicht konsistent, sind “aus krummem Holz”, sind widersprüchlich, erratisch und kontingent. Und gerade der Versuch, dies zu verneinen (oder jedenfalls es auszublenden) durch vorbehaltloses Unterwerfen, mündet notwendig in der Katastrophe.

Die Welt ist aus den Fugen (time is out of joint), aber das ist eben nicht ein Fehler oder ein Defizit, sondern ihr Grundzustand, ihr Charakter, ihr Wesen. Die Welt ist mehr als die Summe ihrer Teile, das Leben mehr als die Summe seiner Augenblicke. Es lässt sich gerade nicht quantifizieren, bzw. die Quantifizierung eliminiert seinen wesentlichsten Kern. Jeder Mensch ist alle Menschen. Und alle Menschen sind notwendig widersprüchlich, denn die Conditio humana besteht darin, nicht aufzugehen, mehr als vollkommen zu sein, mehr als vollständig. Und diese unbeschränkte Potentialität ist notwendig widersprüchlich. Alleine schon der Wunsch, sie “ins Lot” zu bringen, sie zu fixieren und auf etwas zu behagten, sie ausnahmslos einer Regel zu unterwerfen, ist zutiefst unmenschlich, eliminiert alles, was liebenswert ist am Menschen, poetisch und gross. Der Wunsch nach Vorhersagbarkeit aber, nach Berechen- und Beherrschbarkeit ist der eigentliche Kern des bürgerlichen Lebens. Mehr als alles andere kennzeichnet, wie es mit Regeln aller Art Kontingenz und Widerspruch auszuschliessen sucht. Deshalb seine essentielle Opposition zu Überraschung, Zauber und Poesie, die es (da es sie nicht gänzlich ausschliessen kann) zu domestizieren sucht, indem es ihnen Raum gibt, aber nur im erwarteten, geplanten und angekündigten Rahmen, worin es – das Oxymoron zeigt es an – natürlich grandios scheitern muss.

Vielleicht ist dies, was nicht nur unsere Fixierung auf Kunst und Kultur begründet, sondern auch unseren Respekt vor der Kindheit: Unser Wissen, dass wir alle einst Genies waren, unsere Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit, die Wehmut des Zurückwünschens, die schemenhafte, aber unvergleichliche Erinnerung an unsere eigentliche Potentialität, die wir heute nur noch in der Liebe wiederzufinden vermöchten. Das aber lassen wir typischerweise gerade nicht zu.