Das bürgerliche Leben

Daniel Kehlmann: Die Lichtprobe. In: Lob. Über Literatur. Reinbeck b. Hamburg, 2010, 180.

Natürlich sehnte ich mich nach anderen Möglichkeiten und danach, mehr als ein Leben zu führen, alle Kinder tun das, werden sie erwachsen, verdrängen sie es, es sei denn, sie werden Schauspieler oder sie schreiben

Aber wie das eben mit dem Verdrängen so ist, das klappt nicht so richtig. Dies ist es, was die bürgerliche Existenz so “unstimmig” macht, so “verstimmt” klingen lässt: sie geht nicht auf, fühlt sich irgendwie falsch an. Und selbst die, die sich ihrem Diktat vorbehaltlos unterwerfen, passen nicht so richtig hinein, denn Menschen sind nicht konsistent, sind “aus krummem Holz”, sind widersprüchlich, erratisch und kontingent. Und gerade der Versuch, dies zu verneinen (oder jedenfalls es auszublenden) durch vorbehaltloses Unterwerfen, mündet notwendig in der Katastrophe.

Die Welt ist aus den Fugen (time is out of joint), aber das ist eben nicht ein Fehler oder ein Defizit, sondern ihr Grundzustand, ihr Charakter, ihr Wesen. Die Welt ist mehr als die Summe ihrer Teile, das Leben mehr als die Summe seiner Augenblicke. Es lässt sich gerade nicht quantifizieren, bzw. die Quantifizierung eliminiert seinen wesentlichsten Kern. Jeder Mensch ist alle Menschen. Und alle Menschen sind notwendig widersprüchlich, denn die Conditio humana besteht darin, nicht aufzugehen, mehr als vollkommen zu sein, mehr als vollständig. Und diese unbeschränkte Potentialität ist notwendig widersprüchlich. Alleine schon der Wunsch, sie “ins Lot” zu bringen, sie zu fixieren und auf etwas zu behagten, sie ausnahmslos einer Regel zu unterwerfen, ist zutiefst unmenschlich, eliminiert alles, was liebenswert ist am Menschen, poetisch und gross. Der Wunsch nach Vorhersagbarkeit aber, nach Berechen- und Beherrschbarkeit ist der eigentliche Kern des bürgerlichen Lebens. Mehr als alles andere kennzeichnet, wie es mit Regeln aller Art Kontingenz und Widerspruch auszuschliessen sucht. Deshalb seine essentielle Opposition zu Überraschung, Zauber und Poesie, die es (da es sie nicht gänzlich ausschliessen kann) zu domestizieren sucht, indem es ihnen Raum gibt, aber nur im erwarteten, geplanten und angekündigten Rahmen, worin es – das Oxymoron zeigt es an – natürlich grandios scheitern muss.

Vielleicht ist dies, was nicht nur unsere Fixierung auf Kunst und Kultur begründet, sondern auch unseren Respekt vor der Kindheit: Unser Wissen, dass wir alle einst Genies waren, unsere Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit, die Wehmut des Zurückwünschens, die schemenhafte, aber unvergleichliche Erinnerung an unsere eigentliche Potentialität, die wir heute nur noch in der Liebe wiederzufinden vermöchten. Das aber lassen wir typischerweise gerade nicht zu.

Wilhelm von Humboldt

Tatsache ist jedenfalls, dass Wilhelm [von Humboldt (1767-1835)], wenn man seine Briefe genau liest, seltsam sadistische Züge offenbart. Ganz klar gesagt: Er liebte es, wenn Leute sich ihm unterwarfen, auch und besonders Frauen. Diesen Zug wohlanständiger Grausamkeit habe ich versucht, im Buch [Die Vermessung der Welt] unauffällig zu verewigen. Ich denke, eine sadistische Grundveranlagung ist in jedem ausser einem einzigen Fall Privatsache und nicht von grösserem Interesse.

Mmh.

Oder?

Was weiss denn ich.

Na, nun fragen Sie mich schon, welches der eine Fall ist!

Bitte sehr. Welches ist der eine Fall, in dem das keine Privatsache mehr ist?

Der Erfinder des deutschen Schulsystems.

Daniel Kehlmann: Diese sehr ernsten Scherze. Zwei Poetikvorlesungen, 2. Vorlesung, in: Lob. Über Literatur, Reinbeck b. Hamburg 2010, 167 f.

Nietzsche zur Gnade

Nietzsche wurde eben erwähnt. Hier der Text von Nietzsche im Original. Zur Genealogie der Moral, 1887, Zweite Abhandlung, Abschnitt 10. Der Text des gesamten Buches findet sich hier.

Mit erstarkender Macht nimmt ein Gemeinwesen die Vergehungen des einzelnen nicht mehr so wichtig, weil sie ihm nicht mehr in gleichem Masse wie früher für das Bestehn des Ganzen als gefährlich und umstürzend gelten dürfen: der Übeltäter wird nicht mehr “friedlos gelegt” und ausgestossen, der allgemeine Zorn darf sich nicht mehr wie früher dermassen zügellos an ihm auslassen—vielmehr wird von nun an der Übeltäter gegen diesen Zorn, sonderlich den der unmittelbar Geschädigten, vorsichtig von seiten des Ganzen verteidigt und in Schutz genommen. Der Kompromiss mit dem Zorn der zunächst durch die Übeltat Betroffenen; ein Bemühen darum, den Fall zu lokalisieren und einer weiteren oder gar allgemeinen Beteiligung und Beunruhigung vorzubeugen; Versuche, Äquivalente zu finden und den ganzen Handel beizulegen (die compositio); vor allem der immer bestimmter auftretende Wille, jedes Vergehn als in irgendeinem Sinne abzahlbar zu nehmen, also, wenigstens bis zu einem gewissen Masse, den Verbrecher und seine Tat voneinander zu isolieren—das sind die Züge, die der ferneren Entwicklung des Strafrechts immer deutlicher aufgeprägt sind. Wächst die Macht und das Selbstbewusstsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht; jede Schwächung und tiefere Gefährdung von jenem bringt dessen härtere Formen wieder ans Licht. Der “Gläubiger” ist immer in dem Grade menschlicher geworden, als er reicher geworden ist; zuletzt ist es selbst das Mass seines Reichtums, wieviel Beeinträchtigung er aushalten kann, ohne daran zu leiden. Es wäre ein Machtbewusstsein der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie gibt—ihren Schädiger straflos zu lassen. “Was gehen mich eigentlich meine Schmarotzer an?” dürfte sie dann sprechen. “Mögen sie leben und gedeihen: dazu bin ich noch stark genug!” Die Gerechtigkeit, welche damit anhob “alles ist abzahlbar, alles muss abgezahlt werden,” endet damit, durch die Finger zu sehn und den Zahlungsunfähigen laufen zu lassen—sie endet wie jedes gute Ding auf Erden, sich selbst aufhebend. Diese Selbstaufhebung der Gerechtigkeit: man weiss, mit welch schönem Namen sie sich nennt—Gnade; sie bleibt, wie sich von selbst versteht, das Vorrecht des Mächtigsten, besser noch, sein jenseits des Rechts.

Der Sturm und die Gerechtigkeit

Es [Shakespeares Stück: Der Sturm] pendelt zwischen dem wohlfeilen Gefallen an der gelingenden Vergeltung und der Verblüffung über jene alle Dramaturgie sprengende Verzeihung, wie wir sie immer wieder in Shakespeares Spätwerk finden – etwa wenn Alkibiades mit überlegenem Heer vor Athen steht, um Timons Kränkung zu rächen, ihn aber auf einmal die Wut verlässt und er unvermittelt beschliesst, es einfach sein zu lassen: “Führt mich in eure Stadt und mit dem Schwert bringe ich den Ölzweig: Krieg erzeuge Frieden und Frieden hemme Krieg.” Das ist nicht Pazifismus, sondern etwas Grösseres und Unheimlicheres, das wohl auch Nietzsche im Sinn hatte, als er von der “Selbstaufhebung der Gerechtigkeit” sprach. “Man weiss, mit welch schönem Namen sie sich nennt – Gnade; sie bleibt, wie sich von selbst versteht, das Vorrecht des Mächtigsten, besser noch, sein Jenseits des Rechts”. So auch hier im Sturm, da Prospero, der nun endlich alle, die sein Herzogtum stahlen, in der Gewalt hat, die Fäden fallen lässt, zurücktritt und sich in die Macht jener Leute begibt, von denen er nichts zu hoffen hat. Eine Ethik, paradoxer als die christliche, eben nicht bloss ein Rache-, sondern ein Gerechtigkeitsverzicht, eine all unsere Prinzipien durcheinanderbringende Gleichgültigkeit gegenüber der Idee, dass dem Menschen geschehen soll, was ihm zusteht, und eine Übeltat bestraft werden muss. Hier wartet kein Gott, der die aufgegebene Strafe anderswo vollziehen wird, Prospero ist dieser Gott, und wenn er verzichtet, wird es kein anderer tun. Das Übel bleibt ungesühnt, einfach weil es der Mühe nicht wert ist und weil die Bestrafung ja auch eine Handlung der Schwere wäre. Caliban lügt nicht mit seinen Beteuerungen, dass ihm Schlimmes zugefügt wurde – “dieses Eiland ist mein, von meiner Mutter Sycorax, das du mir wegnimmst” – aber allein sein Beharren darauf setzt ihn ins Unrecht gegenüber Ariel, der zu leicht ist für Erinnerungen, und gegenüber Prospero, dem die Gerechtigkeit in dem Moment, da er sie haben könnte, nicht mehr wichtig ist und der seinen Genius statt dessen in die Verwandlung entlässt.

Daniel Kehlmann: Shakespeare und das Talent, in: Lob. Über Literatur, Reinbeck b. Hamburg 2010, 115 f.

Tatsächlich, Strafe kostet nicht nur etwas, sie anerkennt auch den Bestraften als der Strafe würdig. Insofern ist “Gnade” nicht nur grosszügig, sondern immer auch überheblich, asymmetrisch und undemokratisch, wenn man so will. Primäre Frage ist immer: “Hat der Täter eine Strafe verdient?” Typischerweise wird diese Frage verstanden als Frage danach, ob die Tat wirklich so verwerflich war, ob man nicht Grosszügigkeit walten lassen könne, ob es sich tatsächlich um eine verantwortliche Tat und nicht vielmehr um eine Schwäche handelte etc. Das aber erfasst nur die Hälfte (und möglicherweise die unwichtigere). Das Verbum “verdienen” nämlich meint: Hat der Täter sich genügend angestrengt? Hat er genug getan, das wert wäre, darauf mit Strafe zu reagieren, darauf überhaupt zu reagieren? Hat er genügend daran “gearbeitet”? Oder ist umgekehrt, was er tat, schlicht zu unbedeutend? Ist er selbst zu unbedeutend? Der Strafverzicht ist Ausnahmezustand, d.h. Akt der Macht, und nicht etwa der Liebe.