Souffrance et compréhension

MADEMOISELLE ANDRIOT

J’ai toujours senti qu’il n’y avait aucun pont, aucun langage commun, rien de commun entre un être qui ne souffrait pas et moi: les êtres qui ne souffrent pas sont pour moi des fantômes.

Henry de Montherlant,  Celles qu’on prend dans ses bras, in: Théâtre complet, Gallimard – La Pléiade, p. 812.

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Je souffre, tu souffres, il souffre. Nous nous comprenons.

Das Einmalige

Selbst an unvermuteter Stelle (Heimito von Doderer ist nicht meine primäre Referenz) findet man Belege für das (meist negierte oder jedenfalls immunisierte) Offensichtliche:

Jedweder kleinste Hergang, wenn man ihn betrachtet, wird befremdlich und steht in neuem Licht, hält man seine Einmaligkeit sich vor Augen — daß nichts wiederkommt, diese Bedeutung kann auch das Bedeutungsloseste für sich in Anspruch nehmen, ebenso wie dies dem wirklich bedeutenden Vorgang erst seinen schmerzhaft-dunklen Hintergrund ganz verleiht — aber 
dies führt schon zu weit; gleichwohl, denke: deine Hand auf dem Wirtshaustisch, dort und dort, vor drei Jahren; oder dein Fuß vorgestern, auf dem Waldpfad. —

 H. v. Doderer: Sieben Variationen über ein Thema von Johann Peter Hebel. Variation V, zu finden in: Doderer, Die Erzählungen, 4. Auflage, München: Beck 2006.

Scheitern am Ständemehr

staendemehr

Welch wunderbare Blüte des Ticker-Journalismus auf 20 Minuten wieder einmal: Eigentlich wurde diese Initiative ja zum bis zum Zeitpunkt dieses Artikels noch in keinem Kanton angenommen, aber: Scheitern wird sie am Ende am Ständemehr!

Verbrecher als Kranke? Verbrechen als Krankheit?

Sagt Wolf Singer im Spiegel (29/2014 vom 14. Juli 2014. S. 38):

SPIEGEL:Verbrecher sind also krank, aber keine schlechten Menschen. Wozu brauchen wir dann das Strafrecht?

Singer: Die Definition von Krankheit würde eine sehr gründliche Diskussion erfordern. Um unser Gesellschaftssystem stabil zu halten, sind Sanktionen bei der Verletzung von Normen unverzichtbar, unabhängig davon, wie weit unser Verständnis der Ursachen von Fehlverhalten reicht. Fest steht: Irgendetwas muss im Gehirn von Straftätern anders sein als bei Menschen, die sich regelkonform verhalten können, denn Verhaltensdispositionen beruhen auf neuronalen Prozessen.

Was belegt: Man kann sehr gescheit, sehr berühmt, und sehr fachkundig sein in einem bestimmten Bereich und dennoch völligen Unsinn erzählen. Gesagt wird doch, dass sich Straftäter nicht regelkonform verhalten können und Nicht-Straftäter schon. Richtig?

Aber erstens sind erhebliche Teile der (jedenfalls männlichen) Bevölkerung “Straftäter” in dem Sinn, dass sie manchmal Straftaten begehen. Was, so wäre zu fragen, ist also ein Straftäter. Denn dass “Nicht-Straftäter” nur ausnahmsweise Straftaten begehen, kann ja nicht entscheidend sein, da auch “Straftäter” sich weit über 99% ihrer Zeit regelkonform verhalten. Selbst besessene Mörder und Vergewaltiger tun die meiste Zeit nichts Böses.

Zweitens unterstellt die Unterscheidung von “Straftätern” und “Nicht-Straftäter” danach, ob die Person sich regelkonform verhalten kann, dass regelkonformes Verhalten von diesen Personen gewollt sei, und zwar grundsätzlich und stets. Denn nur im Bereich des Wollens ergibt das Können überhaupt Sinn. Nur dort, wo ich eine Regel einhalten möchte, dies aber nicht schaffe, ergibt die Rede vom “nicht regelkonform verhalten können” überhaupt Sinn. Will ich die Regel nicht einhalten, erscheint eine Umschreibung als “Nicht-Können” zumindest merkwürdig (wenn auch völlig selbstverständlich für eine Position, die die Möglichkeit des Wollens ohnehin negiert). Viel gravierender aber ist, dass Regelkonformität selbst bei den Konformen praktisch nie wirklich gewollt ist. Meistens halten wir uns Regeln, weil wir keinen Grund haben, uns nicht daran zu halten. Ich etwa habe noch nie jemanden umgebracht. Doch liegt das wohl weniger daran, dass ich (im Gegensatz zu anderen, die das nicht schaffen) das Tötungsverbot oder gar das Gesetz respektiere, als an der Tatsache, dass ich einfach keinen Grund hatte, jemanden zu töten, kein Begehren, ja nicht einmal einen schwachen Wunsch.

Wollte man dem folgen, dann würden alle Delikte, die ich begehen könnte, aber noch nie begangen habe, belegen, dass ich mich regelkonform verhalten kann. Dasselbe aber würde auch für einen Straftäter gelten, denn die potentiell begehbaren (aber nicht begangenen) Delikte sind selbst bei Gewohnheitsverbrechern gegenüber den tatsächlich begangenen immer in erdrückender Überzahl. Selbst schlimmste Verbrecher sind kleine Spiesser.

Versprechen, Verträge und Regeln

Schreibt Salvatore Satta (1902-1975), ein italienischer Schriftsteller, der mit seinem ersten Roman scheiterte und der daraufhin Jurist wurde und Professor für Zivilprozessrecht, in einem Essay über das Mysterium des Prozesses (S. Satta, Il Mistero del Processo, Piccola Biblioteca Einaudi 324, 2a edizione, Milano: Adelphi 2013):

Queste promesse che gli uomini, paurosi l’uno dell’altro, si scambiano in una carta più o meno solenne sono come le promesse di eterna fedeltà nell’amore: valgono finché valgono, rebus sic stantibus, finché la natura, la passione, la follia non prendono il sopravvento.

bzw. für die des Italienischen nicht Mächtigen:

Diese Versprechen, die sich die Menschen, sich voreinander ängstigend, auf einem Stück Papier mehr oder weniger feierlich geben, sind wie die Versprechen ewiger Treue in der Liebe: Sie gelten, solange sie gelten, rebus sic stantibus, bis die Natur, die Leidenschaft, der Wahnsinn die Oberhand gewinnen.

Schön, nicht? Satta, übrigens, hat auch als Professor weitergeschrieben. Ich meine: richtige Bücher. Aber im Geheimen. Und als er starb, fand sich in seinem Nachlass der Roman “Il Giorno del Giudizio” (auf deutsch erhältlich: Der Tag des Gerichts). Ein Buch, das einen umhaut. Und die Welt klagte. Natürlich. Wie immer. Wir haben ein Genie verloren! (stimmt). Und wussten es nicht! (stimmt nicht).