Nationalität ist eine Erfindung

Die nachfolgende Passage aus H. Kestens Erzählung “Oberst Kock” stammt aus dem Jahr 1946, sie bringt aber auf den Punkt, was heute noch genau so gilt:

“Sind Sie nicht Pole” fragte ich.

“Darauf müsste ich Ihnen mit der Geschichte der polnischen Republik antworten. Die Polizei fragte mich: ‘Sind Sie in Polen geboren?’

‘Ich bin älter als die polnische Republik.’

‘Wo sind Sie geboren …’

‘In Odessa …’

‘Also sind Sie Russe?’

‘Meine Mutter war Schweizerin.’

‘Und Ihr Vater?’

‘Unbekannt.’

‘Also sind Sie Schweizer?’

‘Meine Mutter hat einen österreichischen Universitätsprofessor geheiratet, der mich adoptiert hat.’

‘Also sind Sie Österreicher?’

‘Österreich hat der Hitler annektiert.’

‘Also sind Sie Deutscher?’

‘Als Oberst der polnischen Armee?’

‘Dann sind Sie doch Pole?’

‘Ich habe gegen die Zusammensetzung der polnischen Regierung im Exil protestiert, nun empfängt mich mein Konsul nicht mehr. Ich bin nicht in Polen geboren. Wie soll ich im Exil und ohne Papiere beweisen, dass mich mein polnischer Vater adoptiert hat?’

‘Mit was für Papieren kamen Sie ins Land?’

‘Mit einem französischen Ausweis.’

‘Sind Sie Franzose?’

‘Keineswegs.’

‘Also staatenlos.’

‘Ich bin Weltbürger!’ gestand ich.

‘Keine Flausen!’ schrie man. ‘Sie machen sich verdächtig. Haben Sie noch Verwandte in Europa?’

‘Ich weiss es nicht.’

‘Ein ordentlicher Mensch kennt seine Familie! Ihre Mutter lebt noch?’

‘Ich weiss es nicht.’

‘Ihrer Mutter letzter Wohnort?’

‘Sie hatte keinen.’

‘Eine Landstreicherin?’

‘Im Gegenteil. Sie war eingesperrt. In einem Konzentrationslager bei Warschau.’

‘Weshalb?’

‘Sie soll in der Strassenbahn geäussert haben, die Deutschen seien auch Menschen.’

‘Aha. Also deutschfreundlich.’

‘Im Gegenteil. Die Nazis bestraften die Verleumdung.’

‘Wie?’

‘Jawohl.’

‘Ach so. Das heisst? Schrieb Ihnen Ihre Mutter nie?’

‘Nein. Aber der Schweizer Konsul in Ankara gab mir Nachricht von ihr.’

‘In Ankara?’

‘In der Türkei. Er ist ein Vetter meiner Mutter. Sein Schwager ist Major in einem sächsischen Regiment, das in dem französischen Badeort Biarritz steht, an der spanischen Grenze. Der Major hat eine Nicht in Berlin. Die Nichte hat eine Freundin. Die Freundin hat ein Verhältnis mit einem Gestapobeamten, der in Warschau Dienst tut. So hatte ich auf dem denkbar schnellsten Wege Nachricht von meiner Mutter, in knapp vier Monaten, natürlich telegraphisch.’

Verdächtiges gewöhnlichen Leben

Die Entlassung zog sich hin. Die Vernehmungen häuften sich. Ich hatte geglaubt, das gewöhnliche Leben eines modernen Menschen hinter mir zu haben.

Die Polizei bewies mir spielend das Gegenteil. Im Laufe der Untersuchung verlor ich meinen Namen, meine Nationalität, meinen Charakter, meine Ehre, mein Selbstgefühl, meinen Mut und meine Identität.

… Verdienste, auf die ich stolz war, sahen wie Verfehlungen aus. Worauf ich mich stützte, das mache mich verdächtig. So verdächtig wird jedes gewöhnliche Leben, wenn man es prüft.

Hermann Kesten,  Oberst Kock, 1946

Tatsächlich. Darin liegt das eigentliche Problem. Jedes Leben wird verdächtig, wenn es genau geprüft wird. In jedem Leben finden sich Fehler und dunkle Geheimnisse. Genau deshalb sollten Zufallsfunde nicht verwertbar sein in einem Strafprozess. Würde man nämlich unser aller Leben einer genauen Prüfung unterziehen, so sässen wir wohl alle im Gefängnis.