Es gibt in der modernen Literatur kaum einen Fall, in dem ein verzweifelter, ein unglücklicher Mensch, ein Mörder, Liebhaber, Bankdefraudant oder sonst einer, der kurzweg entschlossen ist, das Leben zu geniessen, nicht zu einer Dirne gegangen wäre. In Dramen, wo der Schaulust des Theaterpublikums Rechnung getragen werden muss, ist es gewöhnlich ein ganzes Bordell, das vor die Rampe tritt, in Romanen genügt schon eine einzeln auftretende Dirne. Es ist einem belesenen Menschen heutzutage so selbstverständlich, auf dem dramatischen Leidensweg eines jungen Menschen das Freudenhaus zu finden, dass Garrett sich wunderte, warum er so lange gebraucht hatte, um dieses Allheilmittel derjenigen Menschen zu finden, denen die Wonnen des Bauches noch nicht das letzte Erinnern geraubt haben an ihre niedergetretene Seele.
H. Kesten, Vergebliche Flucht, 1926
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