Und abgesehen davon braucht jede Begegnung eine erste Missachtung der Linie, die der Anstand um jeden Menschen zieht. Wer nur küsst, nachdem er dazu aufgefordert wurde, und wer nur geküsst wird, nachdem er sein Einverständnis gegeben hat, der wird niemals küssen und niemals geküsst werden. Wer etwas von der Welt erfahren will, einen Zugang zu den verborgenen Geheimnissen gewinnen, der muss durch die Türe gehen unaufgefordert, er kann nicht warten, bis er die Erlaubnis erhält. Keine Geschichte, schon gar keine Liebesgeschichte, kommt ohne Übertretung aus. Keine Eroberung ist erfolgreich ohne die Anmassung. Falls Philip also diese Frau ansprechen wollte, was nicht sicher ist, dann musste er etwas tun, das zumindest zweifelhaft war.
Lukas Bärfuss, Hagard, Wallstein 2017, 26
Nähe wird durch Ferne möglich, und an der Gegenwart krepiert die Leidenschaft. Wenn wir uns trennen, bleiben wir uns.
Aber eben auch alleine. In einem gewissen Sinne sind wir ja uns selbst nur, wenn wir alleine sind. Andererseits werden wir erst in der Liebe wirklich uns selbst, also in der Grenzüberschreitung, der Entäusserung. Vielleicht, weil wir nicht in uns selbst finden können, sondern nur im Bezug auf ein Anderes.
Spricht der Rabbi Mendel von Kotzk: “Wenn ich ich bin, nur weil ich ich bin, und Du Du bist, nur weil Du Du bist, dann bin ich ich, und Du bist Du. Aber wenn ich ich bin, weil Du Du bist, und Du Du bist, weil ich ich bin, dann bin ich nicht ich, und Du bist nicht Du.”