Das Zufallsgesetz

Ein Passagier eines Zugs, der frontal mit einem anderen Zug zusammengestossen ist, tut dem Blick seine Eindrücke kund.

Die Zeitung titelt:

Er sass im Unglückszug
“Ich steige nie mehr vorne ein!”

Doch zum Glück gibt es die Kommentarspalte, wo der fatale Irrtum des jungen Mannes aufgedeckt wird. Ein herzliches Dankeschön an dieser Stelle an Salomon Rittergold aus Lausanne, der Herrn L. möglicherweise das Leben gerettet hat mit seinem wertvollen Hinweis auf das Zufallsgesetz in seinem Onlinekommentar!

zufallsgesetz

Dienstleistung … und Schwarmintelligenz

Viele Blogs etc. werden neuerdings mit Wortwolken verziert (warum dieser hier eigentlich nicht …?), in denen nach geheimnisvollen Algorithmen ermittelte angeblich in engem Zusammenhang oder zumindest häufig in der Nähe stehende Termini häufig auch noch dekorativ in unterschiedlichen Farben und Schriftgrössen gruppiert werden. Falls man einmal nicht weiss, was man sagen, denken oder assoziieren soll, hier findet man die nötigen Anregungen. Kleine Landkarten des Geisteslebens sozusagen. Da auch mit Häufigkeiten operierend: Des Geisteslebens vieler. Ein Geisterschwarm!

Auch der altehrwürdige Duden verschliesst sich dem nicht und bietet passende Adjektive, Verben und Substantive zu den aufgeführten Termini an. Das versaute Ding.Dienstleistung

Emanzipation im 17. Jahrhundert

Ninon de Lenclos (1620-1705) ist ohnehin eine der eindrücklichsten (weil selbständigsten) Persönlichkeiten des 17. (aber auch jedes anderen) Jahrhunderts.

Im Vergleich zu ihr und ihren Freundinnen (Marion de Lorme [1613-1650], Marguerite Rambouillet de La Sablière [1636-1693] oder Königin Christine von Schweden [1626-1689], nicht zu sprechen von den berühmt-berüchtigen Schriftstellerinnen Mme. de Maintenon [1635-1719], Mme. de Sévigné [1626-1696] und Mlle. de Scudéry [1607-1701]) scheint die Emanzipation in den letzten 400 Jahren nicht wirklich vorangekommen zu sein, obwohl – oder vielleicht gerade weil – deren Verhältnis zur Sinnlichkeit ein deutlich unverkrampfteres war.

Prüderie im 17. und 21. Jahrhundert

Erzählt Tallemant des Réaux (1619-1692) in seinen Historiettes, über Heinrich IV. (1553-1610) in der gleichnamigen Geschichte zur Begegnung Heinrichs mit Fanuche, einer seiner vielen Geliebten:

Quand on luy produisit la Fanuche, qu’on luy faisoit passer pour pucelle, il trouva le chemin assez frayé et il se mit à siffler. « Que veut dire cela? » luy dit-elle. — « C’est » respondit-il, que j’appelle ceux qui ont passé par icy. — Picquez, picquez, » dist-elle. « vous les attraperrez. »

Den letzten Satz (also die Antwort Fanuches auf Heinrichs freche Bemerkung) findet man nicht in der 1. und 2. Ausgabe der Historiette von 1834 und 1840. Sucht man in Google nach Tallemant und Fanuche kommt man auf diese verstümmelten Fassungen (ebenso die Encyclopédie de l’Agora). Prüderie des 19. Jahrhunderts, die sich auf Internet fortsetzt. Erst in der 3. Ausgabe von Mommerqué und Paulin im Jahre 1862 findet sich der vollständige Text (vgl. Archive.Org hier, bzw. im dirketen Link auf Google Books hier).

Raoul Rosières übrigens, in seiner Publikation (Une Historiette de Tallemant des Réaux, annoté par un folkloriste, Paris 1894, 12) zweifelt unter Verweis auf Bonaventura des Périers wohl zurecht an der Authentizität der Bemerkung.

Notwendiger Kontakt

La plupart des gens acceptent très volontiers que le premier venu ait des droits sur eux. Un inconnu les force à venir au téléphone, les force à répondre à sa lettre, les force à se mettre en colère parce qu’il les insulte, ou à démentir parce qu’il les a calomniés. J’imagine le volé qui ne porterait pas plainte : eh quoi ! suffirait-il donc qu’on me volât pour prendre pied dans ma vie?

Montherlant, Carnet XXI.

Und ganz ähnlich:

Comment faire des choses grandes, quand tant d’heures sont perdues à ménager la susceptibilité des gens ? Il faut vivre à genoux.

Ebenda.

Nietzsche und das Vergessen

Lektürlich hat Nietzsche zum Vergessen als Fähigkeit und Kunst angeführt. Das ist völlig richtig. Nietzsche sagt das sehr deutlich in den Unzeitgemässen Betrachtungen (1893), und zwar im Stück “Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben”:

Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Tiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholtem Wiederkäuen leben sollte. Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären: es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur.