Überlegungen zum Unerwarteten

Nassim Nicholas Taleb hat uns vor sog. Black Swans gewarnt (siehe: Nassem Nicholas TALEB, The Black Swan, 2nd Ed.., Random House, New York 2010).

Before the discovery of Australia, people in the Old World were convinced that all swans were white, an unassailable belief as it seemed completely confirmed by empirical evidence. The sighting of the first black swan might have been an interestig surprise for a few ornithologists (and others extremely concerned with the coloring of birds), but that is not where the significance of the story lies. It illustrates a severe limitation to our learning from observations or experience and the fragility of our knowledge. One single observation can invalidate a general statement derived from millennia of confirmatory sightings of millions of white swans. All you need is one single (and, I am told, quite ugly) black bird. (S. XXI)

Mit Black Swan meint Taleb ein extrem unwahrscheinliches, völlig überraschendes Ereignis, das schwere Folgen nach sich zieht und im Nachhinein einfach zu erklären ist.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob man das Unerwartete erwarteter machen kann, indem man es erwartet. Die Frage scheint trivial zu sein, sie ist aber von grundlegender Bedeutung.

Der Witz am Unerwarteten ist, dass ein Ereignis immer ex post als unerwartet qualifiziert wird. Wenn man das Unerwartete erwartet hat, so erkennen wir das Unerwartete gar nicht als solches.

Interessanterweise findet die Qualifizierung als unerwartetes Ereignis gerade in einem Moment statt, wo das Ereignis nicht mehr unerwartet erscheint. In der Tat ist das unerwartete Ereignis ex post immer einfach erklärbar und somit nicht mehr unerwartet.

Das Unerwartete ist somit unfassbar. Fasst man es ex ante, so entflieht es (indem wir es nicht als solches erkennen, und indem ein anderes unerwartetes Ereignis möglicherweise passiert); erkennt man es ex post als solches, verschwindet es in dem Moment, wo man es erkennt.

Wenn man endlich etwas Unerwartetes erwartet, so ist das, was man erwartet, so abstrakt, dass es das unerwartete Ereignis gar nicht enthalten kann, weil es gerade jedes unerwartete Ereignis auch enthalten könnte. Nehmen wir ein Beispiel, ich erwarte jetzt etwas ganz Unerwartetes….

Es ist einfach nichts passiert, das hatte ich aber nicht erwartet (!) Q.E.D.

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Das Unerwartete ist wie das Leben: unfassbar, unberechenbar. Es findet immer nur im Moment statt.

Sex als Verteidigung vor dem Tod

Montherlant zum Sex als einziger Verteidigung vor dem Nichts (natürlich kann man das, der gegenwärtigen Prüderie entsprechend, auch Sinnlichkeit nennen, doch der Text ist radikaler: Carnet XIX, 1930/1931, in: Essais, Bibliothèque de la Pleiade, Paris 1963, 975):

Nous lisons souvent des variations sur : “L’homme ne peut rien pour l’homme. On reste toujours seul.” C’est de la littérature, et fausse. L’homme peut tout pour l’homme. Dans mes poches d’incompréhensible désespoir, au temps des Voyageurs traqués, une demi-heure de plaisir physique, donnée par mon semblable, et le verre de mes lunettes était changé : le monde n’était plus ce monde de suicide où je m’enfonçais depuis des jours. Et qu’est-ce qu’une “solitude” remplie du souvenir et de l’attente de la créature? On est deux ; ce n’est pas une solitude. Je serais prêt à créer une divinité pour pouvoir la remercier de n’avoir jamais été abandonné de ce secours humain de la chair, qui m’a maintenu jusqu’aujourd’hui la tête hors de l’eau.

Je ressasse le mot de Gobineau : “Il y a le travail, puis l’amour, puis rien” (en intervertissant les deux premiers termes). Amour, travail : des passions, ou plutôt, au point où j’en ai besoin, je les appellerais de la drogue. Si la maladie ou des circonstances sociales me privaient à la fois de l’un et de l’autre, que deviendrais-je? Nous retombons sur le suicide.

Erwähnt sei (um es ein wenig komplexer zu machen), dass der erwähnte Joseph Arthur de Gobineau (1816-1882) gemeinhin als Rassist gilt (und auch als Antisemit, was allerdings nicht unbestritten ist), er sicher aber nicht weniger elitär war als Montherlant und damit genauso unzeitgemäss wie dieser. Erwähnt sei auch, dass sich letztlich bei Montherlant der Tod durchgesetzt hat (aber das tut er ja immer), was einmal mehr beweist: Man kann einfach nicht immer vögeln.

Wale und Selbstmord

Wale sollen Selbstmord begehen, so sagt man (obwohl auch das natürlich bestritten wird, und wie die allgemeinere Frage, ob überhaupt Tiere Selbstmord begehen, kontrovers diskutiert wird: Vgl. etwa die Diskussion in Wikipedia oder in Time, aber auch schon in Meyers Konversations-Lexikon von 1905 ; interessant auch dieses Video eines Schwertwals (auf Youtube als Delfin bezeichnet).

Interessant sind dabei v.a. die Argumente gegen die Annahme, Tiere könnten sterben wollen. Die unterscheiden sich nämlich nicht wirklich von denjenigen bei Menschen (nur dass sie bei uns, zumindest in säkular-aufgeklärtem Umfeld, nicht so offen vorgebracht werden).

Tatsächlich aber überfordert uns die Frage. Ob wir einem gestrandeten Wal tatsächlich etwas Gutes tun, wenn wir versuchen, ihn wieder ins Meer zu bringen, wissen wir schlicht nicht. Aber das unterscheidet sich nicht wirklich von der Situation bei einem Menschen. Merkwürdig auch, wie ungebrochen der Biologismus durchschlägt, wonach einziges und uneingeschränktes Ziel das Überleben ist, und alles andere pathologisiert wird (eine im Übrigen durch und durch unethische Annahme).

Lesenswert hierzu immer noch: Ein Meilenstein zur Frage des Bewusstseins Thomas Nagels Paper “What Is it Like to Be a Bat?”, das 1974 erschien.

Mediale Geschwindigkeit

Zwischen den Einschlägen der Flugzeuge in die Nord- und Südtürme des WTC im Jahr 2001 lagen gerade einmal 17 Minuten. Nach dem ersten Einschlag hatte mich entgeistert ein Freund angerufen (nicht aus den USA, sondern der Schweiz), ich solle den Fernseher anstellen. Natürlich tat ich, was er wünschte und erlebte so den Einschlag des zweiten Flugzeugs in den Südturm “quasi live” mit. 

Medien, Zeit und Vergessen

Technik ist es übrigens auch, die zum einen das gesellschaftliche Tempo unermüdlich und unerbittlich erhöht, und die zum anderen – und das ist fatal – das Vergessen langsam aber sicher tötet. (Das Netz vergisst nicht. Nichts.)

Eine Welt ohne Vergessen ist aber im Kern unmenschlich, denn zur Conditio humana gehört die Zeitlichkeit, das Vergessen und Vergessen-werden, das Vorübergehen, das Verlust aber gleichzeitig auch Chance darstellt. Symptomatisch erscheint, dass diese unmenschliche Qualität der Technik (insbesondere der neuen Medien) auf die Gesellschaft selbst abfärbt und ihr zunehmend als Desiderat erscheint. Entsprechend werden Unverjährbarkeiten gefordert, immerwährende Register und unbeschränkt dauernde Verbote, im – natürlich ganz sinnlosen – Bestreben, die Zeit anzuhalten.

Medien als Feind des Strafrechts

Erg hat hier eine beredten Nekrolog auf die Unschuldsvermutung gehalten. Stellt sich die Frage, wie aus der Garantie eines fairen Verfahrens eine Bedrohung desselben geworden ist. Unzweifelhaft dürfte sein, dass das Interesse an Sex and Crime einst wohl nicht kleiner war als heute. Auch das Strafrecht selbst bzw. der Strafprozess haben wohl keine fundamentalen Funktions-Veränderungen durchgemacht seit Feuerbach. Eigentlich kann also diese Bedrohung nur auf die Veränderung der Medien selbst zurückzuführen sein. Nur worin bestünde diese Veränderung?

Zu vermuten steht wohl, dass Ursache der Veränderung nicht die Medien selbst oder ihre Funktion sind, sondern schlicht die Technik. Die neuen Technologien bewirken zum einen, dass eine Nachricht praktisch in Echtzeit auf dem gesamten Erdball gleichzeitig verbreitet werden kann. Die Fragmentierung, die einst die Welt in viele kleine lokale Welten unterteilte, ist passé. Es reicht  heute nicht mehr, von Zürich wegzuziehen nach Bern, um als Unbekannter noch einmal von vorne anzufangen.

Zwar gibt es v.a. entlang der Sprachgrenzen noch Unterschiede, und natürlich ist die (medial vermittelte) Welt eine andere in den USA, China oder der Schweiz. Aber das sind eben die Grenzen der Sprach- oder Kulturwelten. Und damit sind es eben auch die Grenzen des Einzelnen (als direkt betroffener Medienstoff). Für ihn oder sie ist es eben genau so schwierig, diese Grenzen zu überwinden. Die Totalität der Medien also ist es, die deren ureigentliches Bedrohungspotential darstellt.