Bedeutsames gehört uns nicht alleine

»Liebe Laura«, sagt Gaetano.

»Lieber Gaetano«, sagt Laura.

Gaetano haut Geld auf den Tisch. Viel zu viel. Nicht ein Viertel machen die Getränke aus. Nein, das ist es nicht.

»Ein Zimmer für uns zwei«, sagt er. »Das beste.«

»Es gibt keine guten«, sagt der Argentinier. Er hängt sich das Akkordeon über die Schultern und spielt diese traurige Musik. Die Finger finden die Tasten von ganz allein. Es ist ein Lied, das der Musikant selbst noch nie gehört hat.

Das ist das Paris von Signor Gaetano Bresci. Aber so etwas gehört nicht einem allein. Die Straßen der Nacht sind hell wie in Patterson der Tag. Vor allen Türen ist Licht. Die Straße reicht ins Zimmer. Das ist das Paris von Cavaliere Gaetano Bresci. Über die Treppe folgt er Donna Laura Casati. An den Schuhen klebt Sirup. Zimmer 8 ist das ihre. Laura öffnet ihr Kleid, noch ehe sie die Tür öffnet.

Michael Köhlmeier: Die Figur. Die Geschichte von Gaetano Bresci, Königsmörder,  München/Zürich: Piper 1986: 120 f.

Nochmals: Warum hast Du das getan?

»Wenn er dich schon nicht gefragt hat, ich frage uicn; warum Dist uu mit’ihm gegangen? Man verläßt nicht mit einem Fremden seine Familie, um sich lediglich eine Stadt anzusehen.«

»Wir haben uns nicht nur die Stadt angesehen. Als ich in Mailand sagte: Ich komme mit Ihnen, da dachte ich, ja, wahrscheinlich werde ich mit ihm schlafen, aber das war nicht der Grund, warum ich mitgegangen bin, es gibt keinen Grund, und am zweiten Abend in Paris hatten wir genug von der Stadt.«

Michael Köhlmeier: Die Figur. Die Geschichte von Gaetano Bresci, Königsmörder,  München/Zürich: Piper 1986: 116 f.

Warum hast Du das getan?

»In Paris muß er ja wohl gemerkt haben, daß du seinetwegen mitgefahren bist. Spätestens als ihr ein Doppelzimmer bestellt habt.«

»Warum hätten wir da noch darüber sprechen sollen«, sagte Laura. »Wenn man gemeinsam ein Zimmer nimmt, dann spielt es doch keine Rolle mehr, warum man es tut. Ich meine, dann weiß man warum.«

»Und wenn er dich gefragt hätte, warum du wirklich mit ihm gekommen bist – was hättest du dann geantwortet?«

»Es gibt keine Gründe. Was hätte er mich fragen 
sollen? Was hätte ich ihn fragen sollen?-Wir haben Bahnhof verlassen und waren in Paris. Wir waren erschöpft und verschwitzt. Er war seit Mailand nicht mehr aus seinen Kleidern gekommen, Er war unrasiert. Wir wollten uns waschen.«

Michael Köhlmeier: Die Figur. Die Geschichte von Gaetano Bresci, Königsmörder,  München/Zürich: Piper 1986: 113

Die Wahrheit ist dumm

Später erzählte sie ihrem Bruder:

»Ich habe meinem Mann einen Brief auf den Schreibtisch gelegt. Ich habe ihn nicht angelogen. Ich habe geschrieben:»Ich fahre nach Paris, wahrscheinlich komme ich wieder.«

»Da kannst du sehen, wie dumm die Wahrheit ist«, sagte ihr Bruder.

Michael Köhlmeier: Die Figur. Die Geschichte von Gaetano Bresci, Königsmörder,  München/Zürich: Piper 1986: 105

Entscheidungen

»Du hast ihn betrogen.«

»Dann muss er mir eben verzeihen.«

»Du hast ihn mit dem Mörder des Königs betrogen,« Er sagte das wie eine Zeile aus einem Gedicht. »Du hast dich in einem Augenblick dazu entschieden, aus einer Laune heraus, mit Leichtigkeit, ohne einen Gedanken. Glaub mir, nur so werden endgültige Entscheidungen getroffen. Die Begründungen dafür werden später nachgeliefert. Sie taugen nichts. Der Wille braucht keine Begründung für die Tat.«

Michael Köhlmeier: Die Figur. Die Geschichte von Gaetano Bresci, Königsmörder,  München/Zürich: Piper 1986: 103 

Geschichten und Wahrheit

Der radikal-ethische philosophische Libertin Diderot schwelgte in seinem Bedürfnis nach Geschichten, die er nach Belieben ausschmückte. Wer gut genug erzählen kann, der hat dieses Privileg, denn er weiss, das Bedürfnis nach der Geschichte ist stärker als das nach empirischen Beweisen.

Philipp Blom: Let Me Tell You a Story, Narrative Identitäten in Zeiten der Unsicherheit, Sigmund Freud Vorlesung 2018, Wien/Berlin 2018, 52