Fahrunfähig?

R. Floriot, Zu Unrecht verurteilt, Hamburg 1969, 247 f.:

Auch wenn die Untersuchung unter einwandfreien Bedingungen vorgenommen wird, lässt ein Blutalkoholgehalt von zwei oder selbst von 2,5 Promille niemals die Behauptung zu, dass sich die betreffende Person im Zustand der Trunkenheit befinden. Denn unbestreitbar ist, dass die gleiche Menge Alkohol durchaus unterschiedliche Wirkungen bei verschieben Personen hervorruft: Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Abspannung, Lebensweise (in frischer Luft oder in der Stadt), berufliche Tätigkeit (körperlich Arbeit oder Büroarbeit) und schliesslich die Gewöhnung an Alkohol spielen eine grosse Rolle. Wenn ein robuster Holzfäller von dreissig Jahren und eine junge charmante Brautjungfer während eines Hochzeitsessens je drei Gläser Champagner trinken, so wird sich der Einfluss des Alkohols in den darauffolgenden Stunden sehr verschieden bei ihnen bemerkbar machen.

[…]

Würde man für alle Personen dieselben Regeln gemäss Tabellen anwenden, so könnte es des öfteren auf einen Justizirrtum hinauslaufen.

Ist es nicht merkwürdig, wie noch nicht ein halbes Jahrhundert her ohne weiteres klar war, dass eine Standardisierung primär Ungerechtigkeit bedeutet? Und ist nicht noch merkwürdiger, wie sehr wir uns (zumindest hier) bereits an diese Standardisierung gewöhnt haben, so dass wir fast unwillkürlich staunen ob Floriots Argumenten, beinahe unfähig, den einzelnen Fall hinter der Abstraktion wahrzunehmen?

Ich erinnere mich einer Passage in einem Buch von Anatole France, ich weiss nicht mehr in welchem (wahrscheinlich Le Petit Pierre), in dem der Grossvater mit dem Enkel abends heimkehrt und vor der Fassade eine Mietshauses stehenbleibt, deren Wohnungen auf allen Stockwerken im selben Zimmer erleuchtet sind. Resigniert erklärt er dem Enkel, dass das nicht immer so war, sondern eine Folge der neuzeitlichen Standardisierung sei. Während früher die Menschen ihre Wohnung nach Belieben einrichteten, sei das nun vorbei, jedenfalls die Küche sei bei allen am selben Ort, nämlich dem gerade erleuchteten.

Abstraktion macht das Leben leichter und einfacher, indem sie es eliminiert.