Krämerseelen und Rechenaufgaben

Es sei sinnlos, Dinge anzustreben, die nicht erreichbar seien, wurde mir heute gesagt. Wenn es keine Wahrheit gebe oder keine Gerechtigkeit, so lohne es sich nicht, danach zu streben. Sei ein Ziel unerreichbar, so sei es geradezu widersinnig, es zu verfolgen. Ausgenommen wurde nur die Liebe, aber auch dies nur der Hoffnung wegen, sie vielleicht einmal zu finden.

Was nur soll man darauf antworten? Wie traurig, wie fürchterlich traurig! Aber eben auch grundfalsch, denn gerade das Gegenteil ist richtig: Nur, was nicht erreichbar ist, taugt überhaupt als Ziel des Begehrens. Denn das Begehren wird ja aufgehoben, das Ziel sinnlos, sobald das Begehrte erreicht wird. Es wird als Begehrenswertes im eigentlichen Sinne vernichtet.

Deshalb ist erstrebenswert überhaupt nur dasjenige, was jenseits liegt bloss technischer Schwierigkeiten, und deshalb kann dauerhaftes Ziel nur sein, was sich eben nicht vollständig erreichen lässt (Jacques Lacan [1901-1981] und sein begehrendes Subjekt lassen grüssen).

Denn die Grundanlage des Menschen ist durch und durch paradox. Nur wenn er sich in stetiger Revolte findet gegen sein Schicksal, sein Los, kann er sein Menschsein überhaupt erhalten, seine Fähigkeit zum Träumen, zur Poesie, zur Kreativität und letztlich zur Liebe. Nur im Paradox verwirklicht er sich. Alles andere sind bloss Rechenaufgaben, die sich mit mehr oder weniger Aufwand, immer aber mit purer Mechanik lösen lassen.

Das Leben als Problem, als Rechenaufgabe, die es zu lösen gilt? Nur Krämerseelen können auf eine so prosaische Idee verfallen. Und auch nur sie könnten sich wohl in einer solchen Existenz heimisch fühlen. Aber auch sie wohl nur um einen fürchterlichen Preis. Und selbst sie wohl nicht auf Dauer.

Utilitarismus, Wissen, Glück und Fernsehen

In seinem Buch Utilitarianism schreibt John Stuart Mill:

It is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied. And if the fool, or the pig, is of a different opinion, it is because they only know their own side of the question. The other party to the comparison knows both sides.

Demzufolge würde jeder, der sowohl das Leben des unglücklichen Sokrates als auch das Leben eines glücklichen Schweines gelebt hätte, sich für das unglückliche Leben Sokrates entscheiden.

Ich sehe nicht ein, erstens warum das Leben von Sokrates wertvoller sein sollte und zweitens was ein wertvolles Leben überhaupt sein soll. Ist ein unglückliches Leben im Denken und mit viel Wissen wünschenswerter als ein glückliches Leben als Idiot? Kann Wissen das Glück ersetzen?

Mir scheint, dass jeder sein eigenes Leben leben darf und für sich selber bestimmen darf, welches Leben wertvoll ist. Wertvoll ist das Leben, dass der Lebende wertvoll findet.

Ovid schrieb in den Metamorphosen (I, 84-86):

[…]

pronaque cum spectent animalia cetera terram

os homini sublime dedit caelumque tueri

iussit et erectos ad sidera tollere vultus […]

Gemäss Ovid wurde dem Menschen ein Gesicht verschafft, das ihm erlaubt nach oben, in den Himmel, zu schauen, während die Tiere alle den Boden anschauen.

Ist das Denken, d.h. die Möglichkeit sich von einer konkreten Situation loszulösen, sich von Aussen zu betrachten, die Möglichkeit sich Gedanken zu machen, der wertvolle Unterschied zwischen dem Tier und dem Menschen, zwischen Sokrates und dem Schwein? Kann das Wissen mit dem Denken erreicht werden?

Nehmen wir ein einfaches Beispiel (das sog. “Fernsehbeispiel”). Dabei werden wir feststellen, dass das Ganze komplexer ist, als was es scheint.

Seien zwei Männer. Der einer isst etwas, was er sehr gerne hat. Der zweite kuckt den ersten auf seinem Fernsehen, und sieht wie er etwas isst, was er selber auch gerne hat. Er macht sich Gedanken über wie der erste Mann isst, über unser tägliches Leben, über die Arbeitsteilung, über das Funktionieren der Gesellschaft.

Der erste Mann wäre in diesem Fall der glückliche Schwein, der zweite der unglückliche Sokrates. Ist jedermann noch einverstanden, dass es besser ist Sokrates zu sein als der Schwein?

Das Fernsehbeispiel erlaubt, die Aussage von Mill zu relativieren. Auf den ersten Blick scheint das Lebensmoment als Schwein wünschenswerter.

Ferner erlaubt das Fernsehbeispiel zu verstehen, dass es diese zwei Lebensarten nicht gibt. Denn der zuschauende und nachdenkende Sokrates, das was er sieht nur wirklich verstehen kann, wenn er es auch schon selber erlebt hat.

Sokrates ist in diesem Fall passiv, er sieht und denkt, handelt aber nicht.

Handeln und Denken schliessen sich nur im Moment gegenseitig aus. Über die Zeit ermöglichen sie erst das Leben, d.h. sie ermöglichen sich gegenseitig. Derjenige der nur denkt lebt nicht, und derjenige der nicht denkt lebt nicht, sondern ist einfach da.

Es handelt sich somit nicht um Lebensarten sondern um zwei Lebensmomente. Der Sokrates, der vor dem Fernseher steht, hat vor zwei Stunden auch etwas gegessen und wird noch in einer Stunde wahrscheinlich schlafen gehen.

Es gibt kein Wissen ohne direkter Erfahrung, ohne Sinnlichkeit. Derjenige der nur denkt weiss nichts, und erkennt nichts, denn das Erkennen fundiert auf die eigene Erfahrung. Derjenige der nicht denkt, kann gar nicht die aktuelle Situation erkennen, und kann sich auch keine Vergangenheit erinnern. Er ist sich nicht bewusst, dass er existiert, denn er kennt das “er” nur als “ich”.

Es gibt weiter kein notwendiger Zusammenhang zwischen einer diesen Lebensmomente und das Glück. Das Wissen als solche macht nicht unbedingt glücklich. Die Stimmung oder das Gefühl, die/das das Wissen hervorbringen kann hängt vom Objekt des Wissens und von der Wertung des Wissenden ab.

Das Wissen über die aktuelle Lage in Syrien kann zum Beispiel einen Pazifisten unglücklich machen, einen Waffenhändler aber glücklich.

Wenn wir zurück zum Fernsehbeispiel kommen, ist die Lage ganz anders, wenn der erste etwas isst, was der erste und der zweite gar nicht gerne haben.

Für einen bestimmten Objekt kann nur derWissende wissen, ob er glücklich ist oder nicht. Am Ende kann nur festgestellt werden, was schon vorher festgestellt wurde: wertvoll ist das Leben, das der Lebende wertvoll findet.

Im Fernsehbeispiel fehlt noch eine Person, der Leser, der sich die Situation vorstellt…