Vergewaltigung, Pornographie & Abstraktion

Ganz richtig, Epipur. Der Begriff vergewaltigt das Leben, stellt Aussenperspektive dar und nicht Erlebtes, der Begriff (und mit ihm die Regel) ist immer Prokrustes-Bett. Ebenso wie der Begriff den Moment mit anderen Momenten in Verbindung setzt, und ihn damit essentiell entwertet, ihn seiner grossartigen und überwältigenden Majestät beraubt, ihn dadurch aber erst handhabbar und überhaupt sagbar macht (denn der Moment, wenn wir es denn wagen, uns ihm einmal hinzugeben, ist immer überwältigend und ausser Kontrolle und eben auch nicht sagbar), ebenso setzt die Regel Einzelfälle miteinander in Beziehung, die eigentlich keine Beziehung zueinander haben.

Wenn Antigone die Beerdigung ihres Bruders einfordert gegen die Regel und das Gebot, dann macht sie geltend, dass es um ihren Bruder geht, d.h. eben nicht um einen Menschen, einen Mann, einen Toten oder irgendjemandes Verwandten, sondern eben um ihren Bruder und dass damit die Einmaligkeit und Unabwägbarkeit bereits vollständig umschrieben sind, denn über dieses “Aber er ist mein Bruder!” hinaus gibt es eben kein weiteres Argument, das notwendig oder auch nur möglich wäre. Und genau dies – die Einmaligkeit des Momentes, des Hier und Jetzt, ist, was letztlich zählt. Hier ist Poesie zuhause und hier die Liebe.

Ich hatte hier bereits von Pornographie gesprochen. Das erscheint immer noch als die treffende Bezeichnung: Denn Pornographie ist nicht einfach Sexualität im Bild, sondern unterscheidet sich davon, indem die unbeteiligte Beobachtung von Sexualität hier eine Verdinglichung anstrebt bzw. erreicht. Das Objekt ist hier also nicht einfach nur Dargestelltes, sondern seiner zentralen Funktion nach Unterworfenes, Beherrschtes, Benutztes.

Es sei nicht bestritten, dass das auch erregend, anziehend und – ja, sagen wir ruhig auch – geil sein kann (beides, das Verdinglichen und das Verdinglicht-Werden je nach Laune oder Moment). Das ist auch kein Defizit und kein Mangel, ganz im Gegenteil. Wenn man aber besagter Anziehung etwas nachgeht, dann wird erkennbar, dass uns an der Verdinglichung die Pause vom Moment anzieht, vom Selbst, vom immerwährenden Reflektieren und Abwägen, die Pause vom Über-Ich. In der Abstraktion “haben” wir die Welt, “beherrschen” wir den Moment, riskieren wir uns nicht und – und das ist der Schlüssel – können uns aber gleichzeitig vormachen, wir kreierten Stabilität oder Gerechtigkeit. Jedem das Seine, nicht? Nur sind die Dinge eben nicht vergleichbar, wenn wir uns wirklich auf sie einlassen. Das wird auch sofort offensichtlich, wenn wir uns vorstellen, dass derjenige, mit dem wir gerade Sex haben, uns mit einem anderen vergleicht. Daran ist nicht störend, dass der Vergleich für uns vielleicht nicht schmeichelhaft sein könnte, sondern dass überhaupt die Möglichkeit des Vergleichs bestehen sollte, denn das belegt doch, dass wir gerade keine Hingabe erleben, sondern nur etwas, das ähnlich aussieht, dieweil wir blosses Objekt oder Instrument des Anderen sind. Und auch dies, ganz vorurteilsfrei, ist natürlich zulässig, nur ist es eben keine dauerhafte Position. Vielmehr kann es gerade nur als Ausnahmezustand erregend sein. Nur wer es nicht tun muss, kann “geben” und gehorcht nicht einfach. Nur dasjenige, worauf wir keinen Anspruch haben, kann Geschenk sein. Und nach diesem sehnen wir uns, nur nach diesem. Und wenn es einen Namen haben sollte, so hiesse es “Rosebud”, nicht?

Es ist die “objektive” Position, die Aussenperspektive, die dem Menschen nicht zusteht, die ihm zumindest nicht dauerhaft zugänglich ist, wenn er seine Menschlichkeit nicht verlieren will. Natürlich kokettieren wir damit, natürlich sind wir manchmal Gott (v.a. wenn wir alleine sind), natürlich ist es manchmal attraktiv, sich oder andere von Aussen und unbeteiligt zu sehen. Aber das kann keine dauerhafte Perspektive sein, weil wir in dieser unerträglichen Ferne und Kälte nicht existieren können. Uns bleibt am Schluss – so beängstigend es erscheinen mag – eben nur der Moment, die Hingabe an das Unkontrollierbare, an die Liebe und – ja, an die Verletzlichkeit.

Und nur zur Erinnerung, falls jemand glauben wollte, solche Überlegungen seien philosophiefremd, sei er oder sie daran erinnert, dass selbst Kant (wahrlich kein Feind der Abstraktion) in der “Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht” seine berühmte Bemerkung tut: “aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von Natur auferlegt.”