Herr Korbes und seine verdiente Strafe

Das möglicherweise beste aller Märchen der Gebrüder Grimm. Im Volltext der Ausgabe letzter Hand nachfolgend (damit’s auch gelesen wird; geht ganz kurz). Alle Versionen sind online einsehbar hier.

Herr Korbes

Es war einmal ein Hühnchen und ein Hähnchen, die wollten zusammen eine Reise machen. Da baute das Hähnchen einen schönen Wagen, der vier rothe Räder hatte, und spannte vier Mäuschen davor. Das Hühnchen setzte sich mit dem Hähnchen auf und sie fuhren mit einander fort. Nicht lange, so begegnete ihnen eine Katze, die sprach „wo wollt ihr hin?“ Hähnchen antwortete

„als hinaus
nach des Herrn Korbes seinem Haus.“

„Nehmt mich mit“ sprach die Katze. Hähnchen antwortete „recht gerne, setz dich hinten auf, daß du vornen nicht herabfällst.

Nehmt euch wohl in acht
daß ihr meine rothen Räderchen nicht schmutzig macht.
Ihr Räderchen, schweift,
ihr Mäuschen, pfeift,
als hinaus
nach des Herrn Korbes seinem Haus.“

Danach kam ein Mühlstein, dann ein Ei, dann eine Ente, dann eine Stecknadel, und zuletzt eine Nähnadel, die setzten sich auch alle auf den Wagen und fuhren mit. Wie sie aber zu des Herrn Korbes Haus kamen, so war der Herr Korbes nicht da. Die Mäuschen fuhren den Wagen in die Scheune, das Hühnchen flog mit dem Hähnchen auf eine Stange, die Katze setzte sich ins Kamin, die Ente in die Bornstange, das Ei wickelte sich ins Handtuch, die Stecknadel steckte sich ins Stuhlkissen, die Nähnadel sprang aufs Bett mitten ins Kopfkissen, und der Mühlstein legte sich über die Thüre. Da kam der Herr Korbes nach Haus, gieng ans Kamin und wollte Feuer anmachen, da warf ihm die Katze das Gesicht voll Asche. Er lief geschwind in die Küche und wollte sich abwaschen, da sprützte ihm die Ente Wasser ins Gesicht. Er wollte sich an dem Handtuch abtrocknen, aber das Ei rollte ihm entgegen, zerbrach und klebte ihm die Augen zu. Er wollte sich ruhen, und setzte sich auf den Stuhl, da stach ihn die Stecknadel. Er gerieth in Zorn, und warf sich aufs Bett, wie er aber den Kopf aufs Kissen niederlegte, stach ihn die Nähnadel, so daß er aufschrie und ganz wüthend in die weite Welt laufen wollte. Wie er aber an die Hausthür kam, sprang der Mühlstein herunter und schlug ihn todt. Der Herr Korbes muß ein recht böser Mann gewesen sein.

Ja, das muss er wohl gewesen sein. Oder doch nicht?

Wale und Selbstmord

Wale sollen Selbstmord begehen, so sagt man (obwohl auch das natürlich bestritten wird, und wie die allgemeinere Frage, ob überhaupt Tiere Selbstmord begehen, kontrovers diskutiert wird: Vgl. etwa die Diskussion in Wikipedia oder in Time, aber auch schon in Meyers Konversations-Lexikon von 1905 ; interessant auch dieses Video eines Schwertwals (auf Youtube als Delfin bezeichnet).

Interessant sind dabei v.a. die Argumente gegen die Annahme, Tiere könnten sterben wollen. Die unterscheiden sich nämlich nicht wirklich von denjenigen bei Menschen (nur dass sie bei uns, zumindest in säkular-aufgeklärtem Umfeld, nicht so offen vorgebracht werden).

Tatsächlich aber überfordert uns die Frage. Ob wir einem gestrandeten Wal tatsächlich etwas Gutes tun, wenn wir versuchen, ihn wieder ins Meer zu bringen, wissen wir schlicht nicht. Aber das unterscheidet sich nicht wirklich von der Situation bei einem Menschen. Merkwürdig auch, wie ungebrochen der Biologismus durchschlägt, wonach einziges und uneingeschränktes Ziel das Überleben ist, und alles andere pathologisiert wird (eine im Übrigen durch und durch unethische Annahme).

Lesenswert hierzu immer noch: Ein Meilenstein zur Frage des Bewusstseins Thomas Nagels Paper “What Is it Like to Be a Bat?”, das 1974 erschien.

Mediale Geschwindigkeit

Zwischen den Einschlägen der Flugzeuge in die Nord- und Südtürme des WTC im Jahr 2001 lagen gerade einmal 17 Minuten. Nach dem ersten Einschlag hatte mich entgeistert ein Freund angerufen (nicht aus den USA, sondern der Schweiz), ich solle den Fernseher anstellen. Natürlich tat ich, was er wünschte und erlebte so den Einschlag des zweiten Flugzeugs in den Südturm “quasi live” mit. 

Medien, Zeit und Vergessen

Technik ist es übrigens auch, die zum einen das gesellschaftliche Tempo unermüdlich und unerbittlich erhöht, und die zum anderen – und das ist fatal – das Vergessen langsam aber sicher tötet. (Das Netz vergisst nicht. Nichts.)

Eine Welt ohne Vergessen ist aber im Kern unmenschlich, denn zur Conditio humana gehört die Zeitlichkeit, das Vergessen und Vergessen-werden, das Vorübergehen, das Verlust aber gleichzeitig auch Chance darstellt. Symptomatisch erscheint, dass diese unmenschliche Qualität der Technik (insbesondere der neuen Medien) auf die Gesellschaft selbst abfärbt und ihr zunehmend als Desiderat erscheint. Entsprechend werden Unverjährbarkeiten gefordert, immerwährende Register und unbeschränkt dauernde Verbote, im – natürlich ganz sinnlosen – Bestreben, die Zeit anzuhalten.

Medien als Feind des Strafrechts

Erg hat hier eine beredten Nekrolog auf die Unschuldsvermutung gehalten. Stellt sich die Frage, wie aus der Garantie eines fairen Verfahrens eine Bedrohung desselben geworden ist. Unzweifelhaft dürfte sein, dass das Interesse an Sex and Crime einst wohl nicht kleiner war als heute. Auch das Strafrecht selbst bzw. der Strafprozess haben wohl keine fundamentalen Funktions-Veränderungen durchgemacht seit Feuerbach. Eigentlich kann also diese Bedrohung nur auf die Veränderung der Medien selbst zurückzuführen sein. Nur worin bestünde diese Veränderung?

Zu vermuten steht wohl, dass Ursache der Veränderung nicht die Medien selbst oder ihre Funktion sind, sondern schlicht die Technik. Die neuen Technologien bewirken zum einen, dass eine Nachricht praktisch in Echtzeit auf dem gesamten Erdball gleichzeitig verbreitet werden kann. Die Fragmentierung, die einst die Welt in viele kleine lokale Welten unterteilte, ist passé. Es reicht  heute nicht mehr, von Zürich wegzuziehen nach Bern, um als Unbekannter noch einmal von vorne anzufangen.

Zwar gibt es v.a. entlang der Sprachgrenzen noch Unterschiede, und natürlich ist die (medial vermittelte) Welt eine andere in den USA, China oder der Schweiz. Aber das sind eben die Grenzen der Sprach- oder Kulturwelten. Und damit sind es eben auch die Grenzen des Einzelnen (als direkt betroffener Medienstoff). Für ihn oder sie ist es eben genau so schwierig, diese Grenzen zu überwinden. Die Totalität der Medien also ist es, die deren ureigentliches Bedrohungspotential darstellt.