Vergessen als Tugend

Filifjonka hat hier von der Bedeutung des Vergessens gesprochen. Was für eine Freude, dafür bei meinem Liebling Montherlant (Carnet XX) )einen Beleg zu finden:

Je dirai encore que l’oubli est une vertu, ou un défaut, noble. Oubli, c’est désintéressement et largesse. Le contraire de la lourdeur. Oublier les injures. “Il faut se dire que les hommes sont ainsi, et passer”. Oublier les choses les plus importantes pour soi, à quoi s’accrocheraient tous les autres. Oublier ce qu’on a fait de bien.
(Oublier les services qu’on vous a rendus est comporté dans ce noble flot du Léthé).

Ziemlich ähnlich hatte das Nietzsche formuliert (Vergessen als Fähigkeit, als Leistung).

Medien, Zeit und Vergessen

Technik ist es übrigens auch, die zum einen das gesellschaftliche Tempo unermüdlich und unerbittlich erhöht, und die zum anderen – und das ist fatal – das Vergessen langsam aber sicher tötet. (Das Netz vergisst nicht. Nichts.)

Eine Welt ohne Vergessen ist aber im Kern unmenschlich, denn zur Conditio humana gehört die Zeitlichkeit, das Vergessen und Vergessen-werden, das Vorübergehen, das Verlust aber gleichzeitig auch Chance darstellt. Symptomatisch erscheint, dass diese unmenschliche Qualität der Technik (insbesondere der neuen Medien) auf die Gesellschaft selbst abfärbt und ihr zunehmend als Desiderat erscheint. Entsprechend werden Unverjährbarkeiten gefordert, immerwährende Register und unbeschränkt dauernde Verbote, im – natürlich ganz sinnlosen – Bestreben, die Zeit anzuhalten.

Medien als Feind des Strafrechts

Erg hat hier eine beredten Nekrolog auf die Unschuldsvermutung gehalten. Stellt sich die Frage, wie aus der Garantie eines fairen Verfahrens eine Bedrohung desselben geworden ist. Unzweifelhaft dürfte sein, dass das Interesse an Sex and Crime einst wohl nicht kleiner war als heute. Auch das Strafrecht selbst bzw. der Strafprozess haben wohl keine fundamentalen Funktions-Veränderungen durchgemacht seit Feuerbach. Eigentlich kann also diese Bedrohung nur auf die Veränderung der Medien selbst zurückzuführen sein. Nur worin bestünde diese Veränderung?

Zu vermuten steht wohl, dass Ursache der Veränderung nicht die Medien selbst oder ihre Funktion sind, sondern schlicht die Technik. Die neuen Technologien bewirken zum einen, dass eine Nachricht praktisch in Echtzeit auf dem gesamten Erdball gleichzeitig verbreitet werden kann. Die Fragmentierung, die einst die Welt in viele kleine lokale Welten unterteilte, ist passé. Es reicht  heute nicht mehr, von Zürich wegzuziehen nach Bern, um als Unbekannter noch einmal von vorne anzufangen.

Zwar gibt es v.a. entlang der Sprachgrenzen noch Unterschiede, und natürlich ist die (medial vermittelte) Welt eine andere in den USA, China oder der Schweiz. Aber das sind eben die Grenzen der Sprach- oder Kulturwelten. Und damit sind es eben auch die Grenzen des Einzelnen (als direkt betroffener Medienstoff). Für ihn oder sie ist es eben genau so schwierig, diese Grenzen zu überwinden. Die Totalität der Medien also ist es, die deren ureigentliches Bedrohungspotential darstellt.

Vergessene Stars

Kennt oder hört irgendjemand Sigismund Thalberg? Das war mal einer der berühmtesten Klaviervirtuosen, der nicht nur Fantasien über Opernmelodien Donizettis, Bellinis oder Verdis geschrieben hat, sondern auch die phantastischen “Soirées de Pausilippe”. Ähnlich ging es Leopold Godowsky oder Moriz Rosenthal (auch wenn der “nur” gespielt hat und nicht auch extensiv komponiert). Kaum etwas ist so passé wie die Stars von einst. Aber Thalberg, Thalberg!