Unfehlbarkeit und Justizirrtum

René Floriot, Zu Unrecht verurteilt (orig.: Les erreurs judiciaires), Hamburg 1969, 8 f.

Kommen solche Justizirrtümer häufig vor?

Es wäre sehr gewagt, eine auch nur ungefähre Statistik aufstellen zu wollen. Halten wir dennoch folgende Tatsache fest: Es gibt in Frankreich zwei Instanzen, die Strafkammer (Tribunal) und den Gerichtshof (Cour), die nacheinander denselben Fall verhandeln. Der Gerichtshof hebt in 25 Prozent aller Fälle das Urteil, das in erster Instanz gefällt wurde, wieder auf. Die Gerichtsräte des Hofes, die unter den Beamten der Kammer ausgewählt werden, wissen sehr wohl, dass ihnen ihre Beförderung nicht gleichzeitig Unfehlbarkeit eingetragen hat. Gewiss haben sie das letzte Wort, aber damit ist keineswegs gesagt, dass sie immer recht hätten. Mit anderen Worten, wenn ein gerichtliches Urteil für ungültig erklärt wird, so ist eine der beiden Entscheidungen mit Sicherheit falsch… und zwar nicht unbedingt die der ersten Instanz.

Hier bietet sich eine Schlussfolgerung an: die Justiz fäll in einem von vier Fällen entweder ein vorläufiges Fehlurteil, was das geringere Übel ist, oder, was weit schwerer wiegt, ein endgültiges Fehlurteil

Dem muss man wohl widersprechen. Denn genau das ist es, was die Richter erlangen, wenn sie auf die höchste Instanz aufsteigen: Unfehlbarkeit. Ihnen geht es ganz wie dem Papst: Sie werden nicht Richter, weil sie unfehlbar sind, aber sie werden unfehlbar, weil sie oberste Richter werden, weil damit gegen ihre Entscheide kein Kraut gewachsen ist bzw. kein Rechtsmittel mehr besteht.

Will man mit Floriot unterscheiden zwischen “letztes Wort haben” und “Recht haben”, dann muss sich das “Recht haben” auf anderes stützen können als eben auf “das letzte Wort haben”. Supponiert wird damit die Existenz einer metajuristischen Entscheidbasis. “Endgültige” Fehlurteile kann es mithin nur geben, wenn es jenseits der letzten juristischen (oder richterlichen) eine weitere Instanz gibt, die eine Entscheidung über das Richtig und Falsch erlaubt.

Denken, Meinungen und das Recht

Im selben Text von Schopenhauer (Arthur Schopenhauer, Eristische Dialektik. Die Kunst, Recht zu behalten, Frankfurt 2005, 58) heisst es weiter:

Denken können sehr Wenige, aber Meinungen wollen Alle haben: Was bleibt das anderes übrig als dass sie solche, statt sie sich selber zu machen, ganz fertig von Andern aufnehmen?

Und dann etwas weiter (59 f.):

Ueberhaupt wird man nun finden, dass wenn zwei gewöhnliche Köpfe mit einander streiten, meistens die gemeinsam von ihnen erwählte Waffe Autoritäten sind: damit schlagen sie aufeinander los. – Hat der bessere Kopf mit einem solchen zu thun, so ist das Räthlichste, dass er sich auch zu dieser Waffe bequeme, sie auslesend nach Maasgabe der Blössen seines Gegners. Denn gegen die Waffe der Gründe ist dieser ex hypothesi, ein gehörnter Siegfried, eingetaucht in die Flut der Unfähigkeit zu denken und zu urtheilen.

Ach ja, das kommt dem Juristen doch bekannt vor. Sind Rechtswissenschaft und Theologie nicht essentiell verwandte Wissenschaften (soweit sie denn Wissenschaften sind), lösen beide doch Divergenzen unter Rekurs auf Autorität. Aber Schopenhauer ist natürlich zu intelligent, um das nicht zu erkennen:

Vor Gericht wird eigentlich nur mit Autoritäten gestritten, die Autorität der Gesetze die fest steht: das Geschäft der Urteilskraft ist das Auffinden des Gesetzes d.h. der Autorität die im gegebenen Fall Anwendung findet. Die Dialektik hat aber Spielraum genug, indem, erforderlichen Falls, der Fall und ein Gesetz, die nicht eigentlich zu einander passen, gedreht werden, bis man sie für zu einander passend ansieht: auch umgekehrt.

Ist das nicht, was Epipur sagt?