Vielleicht am allerschwersten zu ertragen bleibt, dass der innerste Kern des Lebens Ungerechtigkeit ist. Oder genauer: Zufälligkeit.
Wie viele Menschen waren nicht freundlich zu mir, nett und hilfsbereit. Ohne Grund und ganz unverdient. Nicht Dutzende oder Tausende gibt es, Millionen, die Freundlichkeit, Hilfe, Aufmerksamkeit und Zuneigung nötiger gehabt und mehr verdient hätten, als ich. Wie könnte ich diese Schuld je abtragen?
Unser Weh findet keinen Grund. Es bleibt essentiell nicht nur Nebensächlichkeit (das haben wir bereits festgestellt), sondern Zufälligkeit. Dies zu erkennen ist, was uns verstummen lässt. Sogar gequält zu werden, wäre uns erträglicher, wenn die Quälerei keine Zufälligkeit wäre.
Zum Abschied, das wunderbare Buch, Zwei Herren am Strand, ist trotz äusserst langsamer Lektüre, zu Ende gegangen, noch eine ganz phantastische Passage (248 f.):
Meine Mutter starb, als ich fünf war, ich kann mich nur schemenhaft an sie erinnern. Mein Vater hat den Verlust nie überwunden. Er hat nicht mehr geheiratet. Um sich selbst zu trösten und um mir ein wenig das Gefühl einer Familie zu vermitteln, spielte er mir am Abend vor dem Einschlafen “Gespräche der Eltern über ihren Sohn” vor. So sachlich drückte er sich aus. Er umarmte ein Kopfkissen, das war meine Mutter und sprach einmal als er einmal als sie. Ohne die Stimme zu verstellen. Es war nichts Parodistisches dabei. Die Gespräche waren manchmal lustig, meistens ernst, wenn sie lustig waren, waren sie nicht lustig gemeint. Er erzählte meiner Mutter, was am Tag geschehen war, sie gab ihre Kommentare dazu ab, er fragte sie um Rat, sie gab Rat. Es kam vor, dass sie nicht einer Meinung waren, es kam vor, dass sie sich stritten, dann war er beleidigt und redete nicht mehr und überliess ihr das Reden, bis sie sich wieder versöhnten. Er spielte das so glaubwürdig, dass mir während der Szene nicht ein Mal der Gedanke kam, das alles sei gar nicht echt. Wenn er den Beleidigten spielte, war er beleidigt, und ich bat ihn, wieder mit Mama gut zu sein, ich hätte sonst nicht einschlafen können. Mein Vater war ein grosser Komödiant, ein grosser unfreiwilliger Komödiant.
Ist das nicht herrlich? Beschreibt es nicht vollständig unsere Gespräche? Wir bringen es nicht über uns zu sagen, was uns quält, und spielen deshalb ständig Theater. Unfreiwillige Komödianten allesamt.
Wenn ich genügend getrunken habe,
werden Deine Augen weich und nachsichtig.
Wenn ich genügend getrunken habe,
vermag ich sogar mir selbst ein wenig zu verzeihen.
Wenn ich genügend getrunken habe,
scheint auch der Morgen weniger bedrohlich.
Wenn ich genügend getrunken habe,
setzt sich die Angst ganz freundlich neben mich.
Umarmt mich. Hält mich. Eine alte Freundin eben.
Wir kennen uns schon lange. Immerhin.
Weder Notwendigkeit noch Raum für Erklärungen.
So überstehen wir gemeinsam die Nacht.
Ist es kindisch, wenn es mir besser geht, nur weil mein Computer wieder funktioniert, wie er sollte, das WLAN steht und das Internet fliegt? Wahrscheinlich. Aber offenbar bin ich recht kindisch. Und schäme mich nicht einmal wirklich dafür. Auch mein kleines, rotes Auto bereitet mir eine ganz unverhältnismässige Freude. Die sinnlichen Kleinigkeiten eben.
Einer meiner Lieblinge, Odo Marquard (*1928) hat das wunderbar beschrieben:
Die Menschen verzweifeln nicht, solange sie immer gerade noch etwas zu erledigen haben: die Milch am Überkochen zu hindern, den Zug in den nächsten Bahnhof zu fahren, das Baby zu füttern, zu Ende zu operieren, das termindringliche Förderungsgutachten zu schreiben, dem Ortsfremden Auskunft zu geben und so fort; dadurch (durch diese kleinen Aufhalter im Sinne des Mini-Kat-Echon) kommen die Menschen – und das ist richtig so –, durch Pensen aufgehalten, ständig zu spät zum Rendez-vous mit dem absoluten Nein.
Odo Marquard, Zur Diätetik der Sinnerwartung, in: Apologie des Zufälligen, Philosophische Studien, Stuttgart 1986, 49.
Gerade dies aber, der kleinräumige, praktische Alltag, die Wiederholung, das Ersetzbare ist, was die Liebe nicht erträgt, die immer Schicksal ist, Katastrophe und Erlösung zugleich, die immer Rendez-vous ist mit dem Absoluten. In seinem Gedicht Heute formuliert das Jan Skácel (1922-1989) schön.Darin heisst es zum Schluss:
An einer Haltestelle
stehen wir beide allein und warten schon längst
nicht mehr auf Gottes Erbarmen bloss auf die Strassenbahn
Jan Skácel, Heute, in: Und nochmals die Liebe, Gedichte, Salzburg 1993
In diesem Spannungsfeld ist alles enthalten. Wer würde ein Leben wollen, das sich im Alltag erschöpft, in beherrsch- und vorhersehbarer Mechanik, wer würde Sinnlichkeit erstreben, die nicht mehr wäre als das? Stimmt schon: Nur Sinnlichkeit rettet uns vor der Verzweiflung. Indem sie uns zwingt, Äonen von Möglichkeiten, die unser Kopf, unser Herz, unsere Phantasie ersinnen, zugunsten einer Einzigen zu ermorden. Das ist das unabwendbar, unbeherrschbar Gewalttätige an und in ihr. Das uns erfasst und auffrisst, und wenn wir Glück haben, mit sich fortträgt. Das ist, was unsere bürgerliche Existenz zu Tode ängstigt und was sie deshalb mit allen Mitteln zu domestizieren und (weil das nicht möglich ist) zu eliminieren oder wenigstens zu vermeiden sucht. Der Konnex von Sinnlichkeit und Gewalt ist alles andere, als zufällig oder auch nur akzessorisch, sondern essentiell, kardinal. Sinnlichkeit ist Gewalt. Sie ist die Mörderin der Möglichkeiten, erbarmungslose Königin, strahlende Herrscherin, die mit einem Blick allein vernichtet, was ihre absolute Herrschaft auch nur in Frage stellt geschweige denn gefährdet.
Gleichzeitig aber ist diese Rettung vor dem Rendez-vous mit dem absoluten Nein immer nur eine vorübergehende, hebt sich auf im selben Moment, in dem sie gelingt. Ist flüchtig, ephemer und volatil. Dies ist der mystische Grund unserer durchgreifenden und nicht zu behebenden Trauer. Untröstlich sind wir. Immer und immer wieder. Und daher unersättlich. Post coïtum animal triste, aber nicht, weil wir müde wären, wie mancherorts behauptet wird (das sind wir wohl auch), sondern weil unser Weh nicht zu heilen ist. Und wir es erkennen. Weil wir nicht zu glauben vermögen, dass uns Gott verlassen hat. Dass wir alleine sind. Dass uns niemand beschützt hat. Damals. Und heute genauso.
Ich könnte hier eine Geschichte über das Meer anfügen. Und die Frauen. Aber es wäre nur eine Geschichte. Besser verständlich wird wohl, was ich meine, durch Sinnlichkeit selbst. G. F. Händels (1685-1759) Klaviersuite Nr. 7 g-moll, HWV 432, enthält als drittes Stück ein Allegro, das – richtig gespielt – einfach alles auffrisst, was sich in den Weg zu stellen wagt. Und wenn es endet, kann es gleich wieder beginnen. Richtig gespielt meint die Einspielung von Andrei Gavrilov (*1955). Im folgenden Video spielt er auf einem merkwürdig gestimmten, aber höchst sinnlichen Flügel. Sekundiert wird er von Sviatoslav Richter (1915-1997), dem nach Glenn Gould (1932-1982) wohl bedeutendsten Pianisten des 20. Jahrhundert. Das Video gibt die ganze Suite wieder, aber es setzt beim Allegro ein. Auf das Allegro folgt eine überaus zärtliche, fast gehauchte Sarabande, dann eine Gigue als Überleitung zur abschliessenden Passacaglia (leicht zu erkennen, welcher Teil des Liebesaktes das ist).
http://youtu.be/-3DEkPXDmJA?t=10m10s
Und für diejenigen, die kein Klavier mögen, als Alternative Aram Khatchaturians (1903-1978) Walzer aus der Masquerade Suite.
Im Journalismus durchaus verbreitet: Der sog. «Lead-Stil». In Wikipedia steht dazu etwa: «Die Informationsschlagzeile soll beim Leser Aufmerksamkeit und Neugier wecken und den Nachrichtenkern enthalten. Der Untertitel soll einen Überblick über die einzelnen Bestandteile des Geschehens vermitteln.»
Wirklich eindrücklich, wie auf blick.ch diese Kunst des subtilen journalistischen Spannungsaufbaus bei maximaler Vermittlung von Informationen auch an den eiligen Medienkonsumenten gepflegt wird. Die Geschichte entwickelt so einen nahezu unwiderstehlichen Sog, wenn man sich plötzlich unversehens fragt: «Und was macht der Tiger?»
Was tust Du nachts um 2, wenn alle schlafen?
Wachst Du noch? Betrinkst Du Dich?
Träumst Du? Erwachst Du?
Trunken noch vom Traum?
Oder ertrinkst Du darin?
I awoke in a fever
The bedclothes were all soaked in sweat
She said ‘You’ve been having a nightmare
And it’s not over yet’
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