Historische Auslegung und Genese

by | Jul 30, 2013 | Die Bemerkung | 1 comment

Warum sollte es für das Verständnis eines Textes bedeutsamer sein, was derjenige sagen wollte, der ihn verfasst hat, als beispielsweise für das Verständnis eines Tisches dasjenige, was sich der Tischler dabei dachte? Würden wir nicht dem Tischler, der einen Stuhl fertigte, auf seinen Protest hin, wenn wir diesen Stuhl als Tisch nutzten, bedenkenlos antworten, dass sein Verständnis des Gegenstandes für uns nicht massgeblich sei? Ist es nicht merkwürdig, dass dies bei Texten anders sein sollte?

Tatsächlich ist die Genese eines Gegenstandes für uns typischerweise nur dann bedeutsam, wenn wir ein spezifisch historisches Erkenntnisinteresse haben, dieweil Herkunft und Genese sonst praktisch bedeutungslos bleiben. Nicht dass Herkunft gleichgültig wäre, ganz im Gegenteil, aber die Frage nach dem Woher beantwortet eben nicht die Frage nach dem Was oder Wozu. Vergangenheit gibt keine Antwort auf die Gegenwart und ihre Fragen. Zu verstehen, woher eine bestimmte psychische Störung stammt, behebt sie nicht. Und wer sich selbst primär über seine Herkunft (seine Eltern beispielsweise oder seine Sippe) definiert, ist entweder noch unreif oder schlicht bedeutungslos.

Dasselbe gilt prinzipiell auch für sprachliche Äusserungen: Zum einen lässt sich gar nicht feststellen, was derjenige sagen wollte, der eine Äusserung getan hat, denn er hat ja gesagt, was er gesagt hat, und eben gerade nichts anderes. Die typische Lehrerfrage also: “Was wollte uns der Dichter damit sagen?”, lässt sich immer dahingehend beantworten, dass er das sagen wollte, was er gesagt hat. Hätte er nämlich etwas anderes sagen wollen, hätte er es ja getan. Die Frage wäre dann einzig, warum er uns nichts anderes gesagt hat. Darauf aber gibt es keine Antwort. Zum anderen aber würde, selbst wenn es ihm gelänge, uns zu sagen, was er eigentlich sagen wollte, nur ein weiterer Text geschaffen, der seinerseits selbständig vor seinem Schöpfer stünde. Zum dritten aber müsste, was immer er wollte, uns eben ganz gleichgültig bleiben, aufgrund der Differenz von Gesagtem und Gewolltem, weil das Gewollte, soweit und sofern es nicht im Gesagten enthalten ist, eben für uns gar nicht erreichbar wäre. Soweit es aber darin enthalten und für uns erreichbar wäre, es eben damit bereits in uns wäre, also gar nicht erst erkannt oder begriffen werden müsste. Es ist also bereits unseres und nicht mehr dasjenige, was der Autor wollte oder der “Schöpfer”. Das bleibt also ganz irrelevant, ausser natürlich für den Autor selbst.

1 Comment

  1. Epipur

    Stimmt, das wird bei Derrida auch schön umschrieben: “Du même coup, un signe écrit comporte une force de rupture avec son contexte, c’est-à-dire l’ensemble des présences qui organisent le moment de son inscription. Cette force de rupture n’est pas un prédicat accidentel, mais la structure même de l’écrit. […] Font partie de ce prétendu contexte réel un certain “présent“ de l’inscription, la présence du scripteur à ce qu’il a écrit, tout l’environnement et l’horizon de son expérience et surtout l’intention, le vouloir-dire, qui animerait à un moment donné son inscription. Il appartient au signe d’être en droit lisible même si le moment de sa production est irrémédiablement perdu et même si je ne sais pas ce que son prétendu auto- scripteur a voulu dire en conscience et en intention au moment où il l’a écrit, c’est-à-dire abandonné à sa dérive essentielle.” (Jacques Derria, Marges – De la philosophie, Les Editions de Minuit, Paris 1972, S. 377).

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