Sehnsucht und Liebe

by | Jul 28, 2014 | Die Bemerkung, Führer der Unschlüssigen, Unsere Tode | 11 comments

Kann man sich nach etwas sehnen, das man nicht kennt? Aber natürlich! Das erleben wir alle, wenn wir lieben. Plötzlich wissen wir, was wir immer vermisst haben, was uns immer gefehlt hat. Mit einem Mal sind wir allein (oder besser: werden uns bewusst, dass wir es sind). Mit einem Mal sind alle Regeln und Gewissheiten bedeutungslos, alle unsere kleinen gutbürgerlichen Mäuerchen und Zäunchen, die wir aufstellen, um uns an wenigstens Etwas halten zu können, erweisen sich als Spielzeug. Für Platon ist dieses Sehnen der eigentliche Urgrund der Liebe. Im Symposion (Gastmahl) beschreibt er bzw. lässt er Aristophanes beschreiben, wie die Menschen ursprünglich rund wie Kugeln waren, bis die Götter sie, um sie zu schwächen, in zwei Hälften schnitten und damit letztlich die Geschlechter schufen, die seither an ihrer Unvollständigkeit leiden und sich nach der verlorenen Ganzheit sehnen.

Ist Liebe also Erfüllung einer Sehnsucht? Kaum. Das hatte ich erst gedacht und es im ersten Anlauf auch bedenkenlos hingeschrieben, aber: Ach nein! Das ist leider ganz falsch, grundfalsch! Denn mit Erfüllung hat sie wohl wenig zu tun. So wenig gar, dass man fast sagen möchte, wo Erfüllung ist und deshalb unser Sehnen aufhört, zieht sich die Liebe sachte zurück. Aber hilft sie uns denn wenigstens in unserem Sehnen, fragst Du, ist sie Trost und Beistand? Ach, wie gerne würde ich das glauben, aber auch dies trifft wohl, wenn man genauer hinschaut, nicht zu.

Liebe scheint keine Reaktion auf unsere Sehnsucht, die dunkel und schwer, kaum fasslich in uns … schwelt hätte ich beinahe gesagt, denn wie von einem lodernden Feuer mit der Zeit nur noch die (natürlich viel heissere) Glut übrig bleibt, so scheint unsere Sehnsucht Überbleibsel eines Feuersturms, den wir überlebt haben. Liebe aber ist überhaupt keine Reaktion auf irgendetwas. Sie ist immer schon da. Wir können sie nur zulassen. Oder eben nicht. Und selbst dies ist nicht eigentlich wahr. Denn nur die Liebe vermag dem Tod Paroli zu bieten. Wir haben nichts anderes. Nicht wirklich eine Wahl also. Nulla salus extra amorem. Liebe aber widersteht dem Tod. Mit Leichtigkeit. Er besiegt sie nicht. Niemals. Kann sie gar nicht besiegen. Dazu fehlt im die Kraft. Sie aber ermattet nicht und erlahmt nicht. Sie wird nicht müde. Und sie gibt auch nicht auf. Sie geht einfach nur weg. So wie die Glut erkaltet. Ohne Grund, Erklärung oder Anlass. Sie geht einfach. Wie Frauen eben gehen. Erst dann hat er eine Chance.

Wie aber, fragst Du – langsam ungeduldig werdend über diese stetigen Abschweifungen –, wie stehen denn nun Liebe und Sehnsucht zueinander, wenn Liebe nicht der Sehnsucht Erfüllung sein kann, sie zudem weder Beistand noch Trost bietet, ja nicht einmal von ihr hervorgerufen wird? Das weiss ich nicht, meine Teuerste. Aber vielleicht stellen wir ja die Frage falsch. Vielleicht sind sie ja dasselbe. Vielleicht heissen wir unsere Sehnsucht nur Liebe, wenn uns bewusst wird, dass die Glut in uns noch nicht erkaltet ist. Liebe wäre also Ausdruck unserer Sehnsucht, wäre ihre Konkretisierung, ihre Fokussierung. Und Sehnsucht wäre kein Zeichen eines Mangels. Vielmehr würde das Fehlen von Sehnsucht die Absenz der Liebe anzeigen. Könnte das wohl sein?

Vielleicht erlaubst Du mir ein Beispiel? Im Song Three Wishes von Roger Waters klingt das so:

There’s something in the air
And you don’t know what it is
You see someone through a window
Who you’ve just learned to miss
And the road leads on to glory but
You’ve used up your last wish
Your last wish

Aber gib Acht! Liest man das, könnte man auf die Idee verfallen, es gäbe einen Ausweg. Wenn wir nur vorsichtig genug sind. Das aber geht fehl. Die drei Wünsche, die uns gewährt werden (oder wie viele es immer auch seien), gewährt von einem Zauberer oder (eher wohl) von einer Zauberin, diese Wünsche sind immer schon aufgebraucht. So scheint es jedenfalls. Wir brauchen sie auf, in unserer Kindheit, unserer Jugend, für Nichtigkeiten. Hinterher wissen wir natürlich, wofür wir sie hätten aufsparen sollen. Und manche tun das auch. Sie sterben mit ihren Wünschen wohlverwahrt. Ohne auch nur einen einzigen davon eingelöst zu haben. Allein, das Ergebnis bleibt sich allemal gleich. Auch sie wissen erst hinterher, wofür sie ihre Wünsche hätten einsetzen sollen.

In der Grammatik heisst das treffend Irrealis.

11 Comments

  1. Lala

    Wenn aber das Wesen eines jeden Menschen die Liebe wäre (ich weiss, das ist bei manchen schwer vorzustellen) und die Sehnsucht unser innerer Antrieb, dieses zu erkennen und uns unserer Vollkommenheit/Ganzheit bewusst zu werden.

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    • Filifjonka

      Dass das Wesen jedes Menschen die Liebe wäre, will ich gerne glauben. Weniger indes, dass Sehnsucht der Drang zu Erkenntnis sei. Ist nicht Liebe selbst eigentliche Erkenntnis? Erkenntnis dessen, was das Geliebte nicht nur ist, sondern auch dessen, was es sein könnte, seiner Potentialität? Nicht unzutreffend nennt ja die Bibel den Geschlechtsverkehr zweier Liebender “einander erkennen”.

      Noch grössere Zweifel überkommen mich bei der Vorstellung, dass wir vollkommen (im Sinne von einer Ergänzung nicht bedürftig) seien. Sofern Menschen überhaupt ganz sind, sofern sie überhaupt Menschen sind, sind sie immer beschädigt. Menschen sind Mängelwesen. Ich verwende den Begriff nicht so gern, weil er von Arnold Gehlen stammt und ideologisch doch belastet ist. Immerhin haben ihn auch Berger und Luckmann verwendet und er bezeichnet eben doch gut die conditio humana. Man könnte den Menschen auch mit Kant beschreiben als “aus krummem Holz geschnitzt”.

      Wenn Sehnsucht aber Antrieb unserer Erkenntnis wäre, müsste sie doch verschwinden, sobald wir erkannt haben, oder nicht?

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      • Lala

        Wenn ich hier von Liebe spreche, meine ich nicht das handelsübliche “Tauschgeschäft”, diese kleine romantische Schmusekatze, sondern das wilde Raubtier, das Feuer, das alles verbrennt. Die Liebe, die ist. Die frei, chaotisch und zerstörerisch wirkt. Die an den Grundfesten rüttelt und sie niederreisst. Die sich durch keine Form, kein Formular, keine Regel und kein Gesetz zähmen lässt.

        Der Drang zur Erkenntnis entsteht durch die Sehnsucht. Dieses Ziehen im Herzen, das einen dazu bewegt, sich auf zu machen auf den Weg des Feuers. Dieser Weg ist steinig und schwer. Wenn wir stehen bleiben, nicht mehr weiter mögen oder umkehren wollen, ist das Sehnen da, uns weiter anzutreiben. Am Ende (ist es das Ende? oder vielmehr ein Anfang?) steht das Wissen um die Liebe, der Glaube an die Liebe und das Fühlen dieser Liebe. Wir sind angekommen. Kennen Angekommene Sehnsucht? Liebe bringt Erkenntnis, Sehnsucht führt uns dorthin.

        Und, ja, der Mensch ist ein “Mängelexemplar”. Es gilt sich und seine Mängel zu akzeptieren. Das vollkommene innere Wesen in der unvollkommenen menschlichen Hülle. Wem es gelingt, dies in Einklang zu bringen, der ist ganz.

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        • Filifjonka

          Wie schön! Richtig heftig! Was für ein Glück! Ist das trotzige Wiederholen einer Aussage noch kein Argument, so ist es doch charmant und überaus reizend. Ich will versuchen, darauf zu antworten:

          Natürlich. Wir sprechen von Liebe. Keine Bedingungen. Keine Gegenseitigkeit. Keine Regeln. Keine kleine Münze. Sonst ist es nicht das, worüber wir hier sprechen wollen. Soweit ganz einig. Auch damit, dass Sehnsucht uns treibt.

          Nur in Einzelheiten würde ich abweichen wollen. Allein, ob es Kleinigkeiten sind, weiss ich nicht. An welchen “Grundfesten” rüttelt denn die Liebe? Sind Form, Formular, Regel und Gesetz nicht zittrige kleine Spielsachen der bürgerlichen Welt, die uns vorgaukeln sollen (oder uns erlauben sollen, uns vorzugaukeln), dass wir das Leben im Griff hätten und nicht umgekehrt? Meinst Du dies, mein Herz?

          Schau, was passiert, wenn wir die Liebe umschreiben wollen: Sie ist nicht beherrschbar. Nicht kontrollierbar. Nicht gerecht. Nicht vorhersehbar. Nicht geregelt. Kennt keine Form. Geht manchmal weg. Und kommt manchmal (wenn auch selten) sogar zurück. Sie ist, wie Du sagst, chaotisch und zerstörerisch, gleichzeitig aber poetisch. Nicht wahr? Umschreibt das nicht das genaue Gegenteil jeder bürgerlichen Gesellschaft? Ihren eigentlichen Horror?

          Langsam erahne ich, was Du meinst mit Erkenntnis. Offenbar bin ich in dieser geordneten, sauberen, bürgerlichen Welt so wenig verankert, dass sie mir gar nicht mehr als möglicher Referenzpunkt taugt. Eine Frage der Perspektive also: Rüttelt die Liebe an Grundfesten, oder haben wir sie eingesperrt in ein Gefängnis, in dem sie zugrunde geht?

          Nimmt man, wie Du es zu tun scheinst, die bürgerliche Welt zum Ausgangspunkt, so ist Liebe tatsächlich eine Befreierin, eine eigentliche Zerstörerin der Verteidigungswälle der Ordnungswut. Sie führt uns aus diesem Gefängnis, das von Feiglingen gebaut und von Gartenzwergen bewacht wird. Und insofern wohl auch zu Erkenntnis der tatsächlich wichtigen Dinge. Du beschreibst die Buddenbrooks, wie mir scheint. Bürgertum und Künstlertum. Solltest Du es gelesen haben, wird es zu Deinen Lieblingsbüchern gehören, andernfalls wartet auf Dich ein Juwel. So weit, so gut, so einig.

          Jetzt aber zieht ein Sturm auf. Hörst Du das dumpfe Grollen? Was nämlich, wenn wir der Liebe folgen und das Gefängnis verlassen? Draussen, mein Herz, draussen, wo die Löwen sind, sind wir auf uns selbst gestellt. Keine Regeln. Kein Schutz. Keine Gewissheit. Nur unser Gefühl. Ich würde das nicht “angekommen” nennen wollen. Mir schiene eher, damit haben wir eine Eintrittskarte gelöst. Der Vorhang geht auf, und das Spiel kann beginnen.

          Und ja, ich denke, die Sehnsucht bleibt.

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          • Klein Mü

            Dass das Vollkommene in einer unvollkommenen Hülle bestehen soll, erscheint mir als ein Paradoxon.
            Ist “Vollkommenheit” nicht eigentlich ein Wort, ein Konzept, dass in der Begrenztheit geschaffen wurde? Wir machen das Gartentor auf, gehen ein Stückchen nur um dann hinter der Stadtmauer zu verschwinden.

            Das Ankommen in der Vollkommenheit und Erkennen erscheint mir wie die Erschaffung einer neuen Identität. Klammern wir uns nicht an der Identität (egal ob Alte oder Neue) fest, weil wir uns fürchten? Wir flüchten uns hinter Mauern, Türen, ganz tief in uns selbst hinein. Wir fürchten uns vor den Fabelwesen, die da draussen ihrer Wege gehen. Der Wassergraben vor dem Stadttor wird immer tiefer in der Hoffnung, dass er jedes Drachenfeuer abzuhalten vermöge.

            Was für wunderschöne Bauten das Bürgertum so geschaffen hat, atemberaubend!
            Trotzdem wird es wohl den einen oder anderen geben, der ihnen den Rücken kehrt, der über die Mauer klettert um dort draussen den Nymphen begegnen.

            Wenn die Liebe unser Wesen ist, müssen wir sie dann noch erkennen? Wie oft erkennt das Sein sich selbst?
            Dann sind wir also Liebe wie wir Haut, Haar, Mund und Augen sind. Und Sehnsucht sind wir auch. Und Leid. Und Leben.

            Die Buddenbrooks, unbedingt! Und vielleicht Fontanes Effi Briest? Ach, ich liebe sie.

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            • Filifjonka

              Paradoxie ist nichts Negatives, charakterisiert sie doch das Wesen des Menschen, ja der Welt. Paradoxie zeigt eher die Schwierigkeit unserer binären Logik auf (bzw. an), etwas zu erfassen.

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          • Lala

            Was für ein Glück für mich, dass meine Insistenz nicht nur als charmant aufgefasst wurde, sondern auch zu einer wertvollen Erkenntnis für mich führte. Ohne diese Ausführungen wäre mir nicht bewusst geworden, wie sehr ich mich tatsächlich noch in der bürgerlichen Einflusssphäre befinde. Grünlich, “diesen Filou”, kenne ich, doch lange ist es her. Vielleicht sollte ich die Buddenbrooks wirklich wieder einmal hervorkramen.

            Da draussen, wo die Löwen sind, sind die Sehnsucht und das Heimweh unsere Fixsterne, die uns leiten und uns den Weg durch die Dunkelheit weisen. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass derjenige, der diesen Weg geht, irgendwann einmal ankommt, dort, am Ziel unserer Sehnsucht: zu Hause.

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            • Filifjonka

              Du solltest den Charme nicht gering schätzen, mein Herz. Er kann nicht erlernt werden, sondern ist ein Geschenk. Kaum etwas, das ihm gleichkäme. Wieso schätzen wir bloss unsere wertvollsten Eigenschaften und Fähigkeiten so gering, dieweil wir stolz sind auf Nichtigkeiten und Tand?
              Ganz einverstanden mit den Leuchtfeuern. Nur das Ankommen macht mir Hühnerhaut. Aber dazu vielleicht in einem neuen Post.

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  2. Klein Mü

    Die Glut erkaltet.
    Und manchmal fällt sanft der Schnee, bevor der Wind die Asche wegzutragen vermag. Manchmal erstarrt solcher Schnee zu Gletschereis und vielleicht, vielleicht taut nach Jahrhunderten irgendwann die Sonne das Eis von der Asche weg.
    Da stehe ich und frage mich was geschieht, wenn nach so langer Zeit ein Wanderer sich an eben jener Stelle niederlässt und ein neues Feuer entfacht.
    Was wäre, wenn ein Phönix sich aus der Asche in den Himmel erheben würde?
    Aber nein, unmöglich.
    Denn ganz egal wie sehr ich seinen Flug ersehne, meine gute Fee schüttelt nur traurig den Kopf.
    Denn vor nicht allzu langer Zeit hat sie mir bereits ein Einhorn, einen goldenen Schlüssel und einen Kuss geschenkt.

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    • Filifjonka

      Sehr sehr schön. Der Phoenix steigt immer wieder aus dem Feuer. Ohne Wanderer. Ohne Fee. Die blosse Erinnerung an das Feuer reicht.

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  3. Filifjonka

    Und noch etwas: Wie ganz wunderbar, dass Ihr etwas sagt, Ihr Lieben!

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