Verbrecher als Kranke? Verbrechen als Krankheit?

by | Sep 23, 2014 | Das Ärgernis, Die Bemerkung, Die Nachricht | 0 comments

Sagt Wolf Singer im Spiegel (29/2014 vom 14. Juli 2014. S. 38):

SPIEGEL:Verbrecher sind also krank, aber keine schlechten Menschen. Wozu brauchen wir dann das Strafrecht?

Singer: Die Definition von Krankheit würde eine sehr gründliche Diskussion erfordern. Um unser Gesellschaftssystem stabil zu halten, sind Sanktionen bei der Verletzung von Normen unverzichtbar, unabhängig davon, wie weit unser Verständnis der Ursachen von Fehlverhalten reicht. Fest steht: Irgendetwas muss im Gehirn von Straftätern anders sein als bei Menschen, die sich regelkonform verhalten können, denn Verhaltensdispositionen beruhen auf neuronalen Prozessen.

Was belegt: Man kann sehr gescheit, sehr berühmt, und sehr fachkundig sein in einem bestimmten Bereich und dennoch völligen Unsinn erzählen. Gesagt wird doch, dass sich Straftäter nicht regelkonform verhalten können und Nicht-Straftäter schon. Richtig?

Aber erstens sind erhebliche Teile der (jedenfalls männlichen) Bevölkerung “Straftäter” in dem Sinn, dass sie manchmal Straftaten begehen. Was, so wäre zu fragen, ist also ein Straftäter. Denn dass “Nicht-Straftäter” nur ausnahmsweise Straftaten begehen, kann ja nicht entscheidend sein, da auch “Straftäter” sich weit über 99% ihrer Zeit regelkonform verhalten. Selbst besessene Mörder und Vergewaltiger tun die meiste Zeit nichts Böses.

Zweitens unterstellt die Unterscheidung von “Straftätern” und “Nicht-Straftäter” danach, ob die Person sich regelkonform verhalten kann, dass regelkonformes Verhalten von diesen Personen gewollt sei, und zwar grundsätzlich und stets. Denn nur im Bereich des Wollens ergibt das Können überhaupt Sinn. Nur dort, wo ich eine Regel einhalten möchte, dies aber nicht schaffe, ergibt die Rede vom “nicht regelkonform verhalten können” überhaupt Sinn. Will ich die Regel nicht einhalten, erscheint eine Umschreibung als “Nicht-Können” zumindest merkwürdig (wenn auch völlig selbstverständlich für eine Position, die die Möglichkeit des Wollens ohnehin negiert). Viel gravierender aber ist, dass Regelkonformität selbst bei den Konformen praktisch nie wirklich gewollt ist. Meistens halten wir uns Regeln, weil wir keinen Grund haben, uns nicht daran zu halten. Ich etwa habe noch nie jemanden umgebracht. Doch liegt das wohl weniger daran, dass ich (im Gegensatz zu anderen, die das nicht schaffen) das Tötungsverbot oder gar das Gesetz respektiere, als an der Tatsache, dass ich einfach keinen Grund hatte, jemanden zu töten, kein Begehren, ja nicht einmal einen schwachen Wunsch.

Wollte man dem folgen, dann würden alle Delikte, die ich begehen könnte, aber noch nie begangen habe, belegen, dass ich mich regelkonform verhalten kann. Dasselbe aber würde auch für einen Straftäter gelten, denn die potentiell begehbaren (aber nicht begangenen) Delikte sind selbst bei Gewohnheitsverbrechern gegenüber den tatsächlich begangenen immer in erdrückender Überzahl. Selbst schlimmste Verbrecher sind kleine Spiesser.

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