Intimität kommt etymologisch von lat. “intimus”, einer Bezeichnung für das Innerste, Geheimste, Vertrauteste, für dasjenige, das dem Rande am fernsten liegt. Man könnte deshalb meinen, und viele tun das wohl, sie wohne zwischen unseren Beinen. Aber das täuscht. Nicht unsere Geschlechtsteile (unsere Scham) sind unser Geheimstes, sondern unsere Ängste. Sie wohnen in jenem Zimmer in Blaubarts Schloss, das allezeit gut verschlossen bleibt und zu dem wir den gut versteckten Schlüssel niemals freiwillig herausgeben. Wenn Du einen Menschen verstehen willst, verstehen willst, was er ist, was er tut, musst Du seine Angst spüren. Ich hatte erst “musst Du seine Angst verstehen” geschrieben, aber das ist nicht wahr. Es gibt nichts zu verstehen, nur hinzunehmen. Angst ist nicht begründet oder unbegründet, sie ist. Angst ist wie die Menschen, die sie haben, nicht richtig oder falsch. Die Menschen und ihre Angst sind, was sie sind. Und wenn Du einen Menschen lieben willst, musst Du auch seine Angst lieben (vielleicht sogar vor allem seine Angst, aber da bin ich mir sicher). Einen Menschen anzunehmen, bedeutet vor allem, sein Angst anzunehmen, ohne Urteil und Vorbehalt. Unsere Ängste definieren uns. Mehr noch als unsere Hoffnungen und Träume.
Aber warum bloss?, fragst Du mit gutem Grund. Das weiss ich natürlich auch nicht, aber vielleicht hilft uns das Folgende weiter: “Alles, was in diesem Leben geschieht, geschieht aus Angst vor Schmerz” hatte Axel Corti für seine Verfilmung der Erzählung “Die blassblaue Frauenhandschrift” von Franz Werfel (1890-1945) angemerkt. So ist es wohl. Unsere Ängste sind unser Intimstes, weil sie etwas noch viel Grösseres, Geheimeres, Persönlicheres, Vertrauteres anzeigen, das dahinter oder darunter liegt: Unseren Schmerz. Der aber bleibt unsagbar, unaussprechlich, und muss es allemal bleiben.
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