Regeln als Transistoren?

by | Nov 8, 2014 | Die Bemerkung | 0 comments

Wittgenstein weist darauf hin, dass es zwischen dem Sinn eines Satzes und seinem Gebrauch, zwischen dem Gehalt einer Regel und ihrer Anwendung keinen Unterschied gibt (noch geben kann), dass mithin ihr Gebrauch, ihre Verwendung bzw. Anwendung ihr Sinn, Bedeutung und Gehalt seien. Wenn man nämlich eine Differenz aufmacht zwischen sprachlichem oder normativem Sinn einerseits und dem tatsächlichem Gebrauch andererseits, dann kann man das Eine (Sinn, Bedeutung, Gehalt) ja nicht aus dem Anderen (Anwendung, Gebrauch) ableiten, sonst wäre die Differenz ja sinnlos. Das zielt, wie alles bei Wittgenstein, auf das Verhältnis von Sprache und Welt, und bringt all jene in Bedrängnis, die auf diese Differenz pochen (und mit ihnen nicht nur die klassische juristische Methodenlehre, sondern auch das klassische Rollenverständnis der Justiz), weil es sie zu Unmöglichem zwingt, namentlich den Sinn eines Satzes nur in ihm selbst, die Bedeutung einer Regeln nur in ihr selbst zu finden. Das kann deshalb nicht gelingen, weil eine Sinn- oder Bedeutungskonstruktion unabhängig vom Tatsächlichen gar nicht möglich ist. Selbst wenn man aber Sinn und Gehalt einer Regel oder die Bedeutung eines Satzes gänzlich ausblendet, kommt man zum selben Resultat.

1. Die Entscheidung, die Regel anzuwenden

Ganz egal nämlich, was eine Regel besagen mag, ganz egal also, was der Auslegende (oder die Auslegungstheorie) ihr für einen Sinn zuschreibt, alles hängt letztlich davon ab, ob man die Regel auf den konkreten Fall anwendet oder nicht. Selbst wenn nämlich der Gehalt der Regel ohne jeden Zweifel eindeutig erkennbar wäre, so hinge dennoch alles von der Frage ihrer Anwendung ab. Diese Entscheidung stellt die Lebensbedingung der Regel dar, ihren eigentlichen Kern und ihre Essenz qua Regel. Auch die traditionelle Auslegungslehre wird nicht bestreiten, dass alles an der Entscheidung hängt, die Regel auf einen konkreten Fall anzuwenden. Daran ändert sich auch nichts, wenn man – wie eben diese Position – die Frage der Regelanwendung von ihrer Interpretation und Auslegung abhängig macht. Denn selbst wenn man dem Regelanwender zugestehen wollte, dass er imstande wäre, den Gehalt der Regel aus sich selbst heraus, ohne Referenz auf Tatsächliches, zu erkennen, so bliebe seine Entscheidung, dieser Erkenntnis zu folgen oder nicht, eben doch jenseits des Normativen und notwendig im Bereich das Tatsächlichen, nämlich beim Regelanwender selbst. Denn über diese Entscheidung kann ja die Regel keine Vorschrift enthalten. Eine derartige Selbst-Referenz wäre gleichbedeutend damit, dass sich die Regel selbst anwendet. Sie wären quasi ihre eigenen Meta-Regeln.

Wendet sich aber eine Regel selbst an, so würden wir nicht von einer “Regel” sprechen, sondern eher von Mechanik: Ist es beispielsweise verboten, die Fenster zu öffnen, ist dies aber gar nicht möglich, etwa weil sie zugeschraubt sind, dann würden wir von demjenigen, der diese Fenster nicht öffnet, kaum sagen, er befolge eine Vorschrift. Dasselbe dürfte von physikalischen “Gesetzen” gelten: Wenn ein Körper vom Tisch fällt (statt davonzufliegen), dann würden wir nicht sagen, er “beachte” ein Naturgesetz. Physikalische “Gesetze” (also “Naturgesetze”) scheinen etwas anderes zu sein als Vorschriften, denen man folgen kann oder eben nicht. Oder anders ausgedrückt: Das Sollen muss sich vom Können unterscheiden. Das ergibt sich auch aus einer zweiten Überlegung.

2. Die Notwendigkeit des Ermessens

Damit wir etwas als “Regel” oder “Vorschrift” empfinden, muss ihm notwendig eine gewisse Unschärfe, ja gar Aleatorik anhaften (oder besser: innewohnen). Das wird deutlich, wenn wir die beiden Extremkonstellationen betrachten, in denen die “Regel” immer eingehalten wird bzw. nie.

Läuft etwas immer gleich ab, ohne Ausnahme und ohne Varianz, so sprechen wir typischerweise nicht davon, dass eine Regel befolgt wird. Oder würdest Du sagen: Die Sonne folgt einer Regel, wenn sie aufgeht? Folgt sie einer Vorschrift? Natürlich können wir die Regelmässigkeit beschreiben, die wir beobachten, die ständig gleiche Wiederholung. Umgekehrt würden wir aber auch nicht von einer Regel sprechen, wenn es zwischen dem Sollen (der Regel, der Vorschrift, unserer normativen Vorstellung) und dem Sein (dem beobachteten Faktischen) überhaupt keine Überschneidungen gibt, wenn also die Welt der Regel überhaupt nie entspricht. Findet dieses Sollen überhaupt keinen Widerhall im Sein, fällt uns der Gebrauch des Begriffes “Regel” schwer. Denn dort, wo es zwischen dem Normativen und dem Faktischen keine Berührungspunkte gibt, reden wir nicht von einer Regel (die etwa nicht eingehalten wird), sondern von einem Wunsch, einem Ziel, einer Idee, einem Begehren oder Ähnlichem.

Damit wir von einer Regel oder Vorschrift sprechen, müssen sich also Sein und Sollen teilweise überschneiden, sie dürfen sich aber nicht vollständig decken. In diesem Schnittbereich (und nur hier) kann die Frage nach der Regelanwendung überhaupt Sinn ergeben. Nur da also, wo Unschärfe besteht, gibt es Raum für eine Entscheidung. Mehr noch: Dieser Entscheidung kann notwendig nur vorläufige Gültigkeit zukommen. Die Frage also, ob eine Regel anzuwenden sei oder nicht, kann nicht endgültig beantwortet werden, sondern immer nur für den einzelnen Fall und Moment. Regelanwendung muss mithin notwendig ein nicht endgültig Bestimmbares sein (und bleiben), die Frage, ob eine Regel anzuwenden sei oder nicht, muss notwendig eine nicht endgültig Beantwortbare sein (und bleiben).

3. Regeln als Transistoren?

Kann darüber, ob die “Regel” auf einen Sachverhalt anzuwenden sei oder nicht, kein Zweifel bestehen (wie das die klassische Methodenlehre wohl annimmt), dann ist ihre Anwendung oder Nicht-Anwendung im konkreten Fall immer richtig oder falsch. Und sie ist immer richtig oder falsch. Keine Graduierung oder Überlappung, keine Tönung oder Schattierung, sondern sich gegenseitig ausschliessende Alternativen. Sind aber Ausnahmen ausgeschlossen und besteht auch kein Raum für Ermessen, dann gibt es aber überhaupt nichts zu entscheiden. Es gilt schlicht anzuwenden. Zwischen dem, was sein sollte (normativ), und dem, was tatsächlich ist (deskriptiv) besteht keine Divergenz, sondern höchstens ein Vollzugsdefizit. Es handelt sich also bei dem, was angewendet oder nicht angewendet werden soll, nicht um eine Regel, sondern um Mechanik nach der Art eines Transistors: Der Strom fliesst oder er fliesst nicht. Und wie bei einer Maschine stellt sich die Frage nach richtig oder falsch einfach nicht, sie ist ganz sinnlos, fraglich ist vielmehr (und einzig), ob die Maschine funktioniert oder ob sie defekt ist. In einer solchen Konstellation braucht es keinen Regelanwender. Die Frage nach der Anwendung der Regel stellt sich ja nicht oder wird von der Regel selbst bereits beantwortet. Dafür benötigt man nicht Juristen, sondern Mechaniker. Notwendig ist keine Entscheidung, sondern eine Maschine.

Die Sprache selbst spiegelt diese Sachlage recht präzise: “Regelmässig” und “Regelmässigkeit” etwa meinen nicht ein Verhalten “gemäss einer Regel” im Sinne der Beachtung einer Vorschrift, sondern Gleichförmigkeit des Beobachteten, also Beschreibungen dessen, was wir wahrnehmen. Damit wir von einer Regel sprechen können, muss es möglich sein, dagegen zu verstossen, sich nicht daran zu halten. Bereits das Wort “Regel” selbst zeigt das an, denn das Lehnwort, das im Mittelalter ins Deutsche kommt, leitet sich vom lateinischen “regula” ab, das “Massstab, Richtschnur” meint. Ganz folgerichtig bezeichnet der Ausdruck “in der Regel” gerade keinen völlig gleichförmigen Ablauf, sondern etwas, das zwar häufig, mehrheitlich oder gar meist gleichförmig abläuft, aber eben gerade nicht immer und ausnahmslos. Das französische “en regle générale” ist dem durchaus analog.

4. Quantenphysik?

Eher denn als Transistor liesse sich die Regel wohl quantenphysikalisch begreifen, als eine Art Unschärferelation nach der Art von Schrödingers Katze. Man muss sie befolgen können, darf sie aber nicht immer befolgen müssen, d.h. muss sie auch nicht befolgen können. Es müssen mindestens zwei Möglichkeiten bestehen:

1. Es muss möglich sein, der Regel zu folgen. Unmögliches kann nicht Inhalt einer Regel sein.

2. Es muss möglich sein, der Regel nicht zu folgen. Wo keine Wahl besteht, ist kein Raum für das Sollen.

Weil aber nicht nur die Möglichkeit ihrer Nicht-Befolgung notwendig zum Begriff der Regel gehört, sondern diese Möglichkeit sich auch tatsächlich manifestieren muss, kann die Regel nichts Mechanisches sein, sondern stellt essentiell Potentialität dar. Wäre zweifelsfrei bestimmbar, ob eine Regel auf einen konkreten Fall anzuwenden ist oder nicht, so hätten wir es nicht mehr mit einer Regel zu tun, sondern mit Mechanik.

Was die Regel-Befolgung oder Regel-Anwendung betrifft, so haben wie das bereits angesprochen: Wenn eine Lampe nicht hell wird, wenn wir sie einschalten, dann ist das nicht richtig oder falsch, es zeigt nur an, dass sie nicht funktioniert. Einen solchen Sachverhalt beschreiben wir nicht als ein Nicht-Anwenden (oder gar Missachten) einer Regel. Es besteht für eine Beurteilung als richtig oder falsch gar kein Raum, weil zwischen dem, was der Fall ist, und dem, was der Fall sein sollte, keine Entscheidung erfolgt. Die Welt ist, was sie ist. Zündet ein Motor nicht oder geht eine Lampe nicht an, so sind sie (wenn nicht andere Ursachen wirken) defekt und müssen repariert werden. Motor und Lampe verhalten sich nicht “falsch”, obwohl sie auch anders könnten. Es wird nichts entschieden. Der Sachverhalt präsentiert sich schlicht nicht so, wie wir es wünschen, weshalb wir ihn modifizieren müssen (so wir können).

Das aber, so wirst Du einwenden, betrifft die Frage danach, was eine Regel sei, die wir bereits diskutiert haben, namentlich dass eine Regel notwendig die Möglichkeit einer Entscheidung voraussetzt, ihr zu folgen oder dies eben nicht zu tun. Es sagt aber nichts darüber aus, ob der Gehalt der Regel zweifelsfrei ermittelt werden kann, ob also eindeutig eruierbar ist, ob die Regel anzuwenden ist. Lass uns, damit wir das beantworten können, ein Gedankenexperiment anstellen: Stellen wir uns eine Regel vor, bei der zum einen nicht nur Gehalt, Bedeutung und Sinn vollständig klar und unzweideutig wären, sondern zum anderen auch ihr korrekter Gebrauch. Es wäre also allemal klar und unzweifelhaft, ob sie auf einen (beliebigen) Sachverhalt anzuwenden wäre. Ihre Anwendung wäre also jederzeit zweifelsfrei entweder richtig oder falsch und auch als solche erkennbar. Ist aber zweifelsfrei, was die Regel besagt und ist zudem klar, dass sie anzuwenden ist, so besteht kein Raum für eine Entscheidung oder auch nur eine Überlegung. Missachtung der Regel ist in dieser Konstellation ganz genau dasselbe wie eine defekte Lampe. Es gilt nicht zu verstehen, auszulegen oder zu entscheiden. Es gilt schlicht anzuwenden, es gilt zu reparieren.

Akzeptiert man, dass eine Regel immer eine Entscheidung verlangt, dann ergibt sich: Kann der Gehalt einer Regel eindeutig ermittelt werden, so ist die Frage ihrer Anwendung nicht zweifelsfrei zu klären (liegt eine Ausnahme vor?). Können umgekehrt hinsichtlich der Anwendung der Regel (bzw. ihrer Ausnahmen) keine Zweifel bestehen, so muss ihr Gehalt mehrdeutig sein. Sind nämlich sowohl Gehalt als auch Anwendung eindeutig bestimmt (oder bestimmbar), so besteht überhaupt kein Bedarf einer Entscheidung, noch Raum dafür. Es handelt sich nicht um Regel und Regelanwendung.

5. Warum also Regeln?

Wenn (1) Regeln unausweichlich eine Entscheidung benötigen, sie anzuwenden, (2) diese Entscheidung aber nicht in der Regel enthalten sein kann, (3) ist der Regelanwender letztlich immer auf sich gestellt. Eigentlich könnte er also einfach autonom entscheiden, ohne Regel. Denn faktisch ist er ja mit seiner Entscheidung allein. Fraglich ist damit, warum es überhaupt Regeln braucht, warum der Entscheidende nicht einfach entscheidet. Eine Antwort darauf ist nicht ohne Weiteres evident.

Üblicherweise werden Regeln wohl als Möglichkeit verstanden, Klarheit zu schaffen, indem die zur Disposition stehenden Optionen reduziert werden. Wie eben dargelegt kann das eine Regel aber gar nicht bewirken, solange die Entscheidung über ihre Ausnahmen beim Entscheidenden bleibt. Dies wiederum ist unumgänglich, denn die Regel selbst kann es nicht regeln und wenn Ausnahmen völlig ausgeschlossen sind, handelt es sich nicht um eine Regel, gibt es nichts zu entscheiden. Eine Reduktion der zur Verfügung stehenden Optionen als scheinbar offensichtlichster Zweck von Regeln kann also nicht deren Existenzgrund darstellen. Wieso also benötigen wir Regeln? Sie können denjenigen, der über ihre Anwendung entscheidet nicht binden. Wir sind ihm ausgeliefert. Wieso also Regeln?

Vielleicht liegt die Antwort ja im Offensichtlichen: Wir müssen einer Regel folgen können, wir müssen ihr aber auch nicht folgen können. Regeln öffnen eine Differenz zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Können, Müssen, Sollen, drei der sechs Modalverben, die im Deutschen existieren (die anderen drei: Wollen, Mögen, Dürfen), sind in der Regel enthalten. Vielleicht liegt ja hier der geheimnisvolle Existenzgrund der Regel: in ihrem Modalcharakter. Aber was tun Modalverben eigentlich: Sie schaffen Parallelwelten zu unserer einen, einzigen, hier und jetzt sich präsentierenden Welt. Sie öffnen den Kosmos, sie potenzieren den Augenblick, der sich stets unserer Kontrolle entzieht. Sie schaffen im eigentlichen und besten Sinne gerade das Gegenteil von Klarheit: sie schaffen Unklarheit und Vagheit. Und damit erst die Möglichkeit von Kommunikation. Wir sind nicht mehr genötigt, uns gegenseitig zu töten. Nicht mehr auf Gedeih und Verderb der Entscheidung ausgeliefert, die ist, was sie ist. Und nur das. Die Regel schafft Freiheitsgrade, erschafft einen Raum der Vagheit, der Unschärfe, der Möglichkeit, in dem Diskussion möglich wird, in dem wir kommunizieren können.

Eigentlich müsste nun eine Diskussion der Modalverben als Quanten folgen, als Ermöglicher der Irritation von Systemen. Doch ist der Eintrag schon unerträglich lang. Zu den Modalverben also ein ander Mal. Und verzeih die Länge dieses Beitrags. Sie zeigt nur an, dass ich noch nicht ganz verstanden habe.

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