Gemeinschaft und der Tod

Es gab also Menschen ausser ihm, die daran laborierten zu sterben und es wussten. Natürlich hatte er das schon vorher geahnt, aber es war ihm nicht bewusst geworden, er sah solche einfach nicht. Das ist ja der Kernpunkt der sozialen Frage. Es existierten diese Elenden, diese hungrigen Massen, diese leiblich oder geistig Unterernährten, Arbeiter, heimatlose Bauern, Verbrecher oder sonstige wahrscheinlich minderwertige Existenzen, und warum sollten sie nicht minderwertig sein, sie krepierten ohnedies vielleicht noch schneller; sie existierten, diese Elenden, in ihrem schamlosen, breiten Elend, gewiss, man wusste das, sie existierten, aber man sah sie nicht, wollte sie nicht sehen, man sah weg, kurz, man sass ihnen nicht gegenüber in der gleichen Lage wie sie.
Er sass ihr gegenüber, ganz nah. Er musste sterben. Sie musste sterben. Er wusste es. Sie wusste es. Aber hatter er nicht einen Trost mehr, da er jetzt, eben in ihr, den Kameraden seines Elends sah? Freilich hätte er bedenken sollen, dass letzten Endes alle Menschen seine Kameraden seien. Alle lebten. Alle mussten sterben. Alle wussten es.

H. Kesten, Vergebliche Flucht, 1926

Huren und Literatur

Es gibt in der modernen Literatur kaum einen Fall, in dem ein verzweifelter, ein unglücklicher Mensch, ein Mörder, Liebhaber, Bankdefraudant oder sonst einer, der kurzweg entschlossen ist, das Leben zu geniessen, nicht zu einer Dirne gegangen wäre. In Dramen, wo der Schaulust des Theaterpublikums Rechnung getragen werden muss, ist es gewöhnlich ein ganzes Bordell, das vor die Rampe tritt, in Romanen genügt schon eine einzeln auftretende Dirne. Es ist einem belesenen Menschen heutzutage so selbstverständlich, auf dem dramatischen Leidensweg eines jungen Menschen das Freudenhaus zu finden, dass Garrett sich wunderte, warum er so lange gebraucht hatte, um dieses Allheilmittel derjenigen Menschen zu finden, denen die Wonnen des Bauches noch nicht das letzte Erinnern geraubt haben an ihre niedergetretene Seele.

H. Kesten, Vergebliche Flucht,  1926

Deutscher Urlaub und Schweizer Ferien

Kaum etwas illustriert den tiefen Graben zwischen Schweizern und Deutschen deutlicher als ihre Sprache. Die Mehrzahl der Schweizer spricht zwar Deutsch, aber es ist eben eine andere Variante dieser Sprache. Und ich meine hier nicht den Dialekt oder die Grammatik, sondern die Begrifflichkeiten selbst.

Kaum etwas ist für Schweizer verwirrlicher als der deutsche Begriff des “Urlaubs”. Wenn Schweizer nicht arbeiten, sondern frei nehmen, wegfahren oder Ähnliches, “nehmen sie Ferien”, “gehen in die Ferien”, “haben sie Ferien”. Nicht so unsere deutschen Nachbarn. Die fahren in den Urlaub, denn nur Kinder haben Ferien, Erwachsene haben Urlaub, etwas offenbar ganz anderes.

Dank Wikipedia erklärt sich der Unterschied darin, dass Urlaub nur Personen betrifft, die eigentlich arbeiten müssten, und die deshalb eine Genehmigung ihres Vorgesetzten (Arbeitgebers oder eben Dienstherrn, wie das so schön heisst) benötigen.

Ist es Zufall, dass der Begriff des  “Urlaub” bzw. der Unterschied zu “Ferien” in der Schweiz schlicht nicht verständlich ist. Warum sollte man jemanden um Erlaubnis fragen, nicht zu arbeiten? Warum sollte man überhaupt jemanden um Erlaubnis fragen, mit seinem eigenen Leben verfahren zu dürfen wie einem gut scheint?

Manchmal bin ich richtig froh (und vielleicht sogar ein wenig stolz), Schweizer zu sein.