by Filifjonka | Aug 4, 2013
Ninon de Lenclos (1620-1705) ist ohnehin eine der eindrücklichsten (weil selbständigsten) Persönlichkeiten des 17. (aber auch jedes anderen) Jahrhunderts.
Im Vergleich zu ihr und ihren Freundinnen (Marion de Lorme [1613-1650], Marguerite Rambouillet de La Sablière [1636-1693] oder Königin Christine von Schweden [1626-1689], nicht zu sprechen von den berühmt-berüchtigen Schriftstellerinnen Mme. de Maintenon [1635-1719], Mme. de Sévigné [1626-1696] und Mlle. de Scudéry [1607-1701]) scheint die Emanzipation in den letzten 400 Jahren nicht wirklich vorangekommen zu sein, obwohl – oder vielleicht gerade weil – deren Verhältnis zur Sinnlichkeit ein deutlich unverkrampfteres war.
by Filifjonka | Aug 3, 2013
René Floriot, Zu Unrecht verurteilt (orig.: Les erreurs judiciaires), Hamburg 1969, 8 f.
Kommen solche Justizirrtümer häufig vor?
Es wäre sehr gewagt, eine auch nur ungefähre Statistik aufstellen zu wollen. Halten wir dennoch folgende Tatsache fest: Es gibt in Frankreich zwei Instanzen, die Strafkammer (Tribunal) und den Gerichtshof (Cour), die nacheinander denselben Fall verhandeln. Der Gerichtshof hebt in 25 Prozent aller Fälle das Urteil, das in erster Instanz gefällt wurde, wieder auf. Die Gerichtsräte des Hofes, die unter den Beamten der Kammer ausgewählt werden, wissen sehr wohl, dass ihnen ihre Beförderung nicht gleichzeitig Unfehlbarkeit eingetragen hat. Gewiss haben sie das letzte Wort, aber damit ist keineswegs gesagt, dass sie immer recht hätten. Mit anderen Worten, wenn ein gerichtliches Urteil für ungültig erklärt wird, so ist eine der beiden Entscheidungen mit Sicherheit falsch… und zwar nicht unbedingt die der ersten Instanz.
Hier bietet sich eine Schlussfolgerung an: die Justiz fäll in einem von vier Fällen entweder ein vorläufiges Fehlurteil, was das geringere Übel ist, oder, was weit schwerer wiegt, ein endgültiges Fehlurteil
Dem muss man wohl widersprechen. Denn genau das ist es, was die Richter erlangen, wenn sie auf die höchste Instanz aufsteigen: Unfehlbarkeit. Ihnen geht es ganz wie dem Papst: Sie werden nicht Richter, weil sie unfehlbar sind, aber sie werden unfehlbar, weil sie oberste Richter werden, weil damit gegen ihre Entscheide kein Kraut gewachsen ist bzw. kein Rechtsmittel mehr besteht.
Will man mit Floriot unterscheiden zwischen “letztes Wort haben” und “Recht haben”, dann muss sich das “Recht haben” auf anderes stützen können als eben auf “das letzte Wort haben”. Supponiert wird damit die Existenz einer metajuristischen Entscheidbasis. “Endgültige” Fehlurteile kann es mithin nur geben, wenn es jenseits der letzten juristischen (oder richterlichen) eine weitere Instanz gibt, die eine Entscheidung über das Richtig und Falsch erlaubt.
by Filifjonka | Aug 1, 2013
Lektürlich hat Nietzsche zum Vergessen als Fähigkeit und Kunst angeführt. Das ist völlig richtig. Nietzsche sagt das sehr deutlich in den Unzeitgemässen Betrachtungen (1893), und zwar im Stück “Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben”:
Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Tiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholtem Wiederkäuen leben sollte. Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären: es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur.
by Filifjonka | Jul 30, 2013
Warum sollte es für das Verständnis eines Textes bedeutsamer sein, was derjenige sagen wollte, der ihn verfasst hat, als beispielsweise für das Verständnis eines Tisches dasjenige, was sich der Tischler dabei dachte? Würden wir nicht dem Tischler, der einen Stuhl fertigte, auf seinen Protest hin, wenn wir diesen Stuhl als Tisch nutzten, bedenkenlos antworten, dass sein Verständnis des Gegenstandes für uns nicht massgeblich sei? Ist es nicht merkwürdig, dass dies bei Texten anders sein sollte?
Tatsächlich ist die Genese eines Gegenstandes für uns typischerweise nur dann bedeutsam, wenn wir ein spezifisch historisches Erkenntnisinteresse haben, dieweil Herkunft und Genese sonst praktisch bedeutungslos bleiben. Nicht dass Herkunft gleichgültig wäre, ganz im Gegenteil, aber die Frage nach dem Woher beantwortet eben nicht die Frage nach dem Was oder Wozu. Vergangenheit gibt keine Antwort auf die Gegenwart und ihre Fragen. Zu verstehen, woher eine bestimmte psychische Störung stammt, behebt sie nicht. Und wer sich selbst primär über seine Herkunft (seine Eltern beispielsweise oder seine Sippe) definiert, ist entweder noch unreif oder schlicht bedeutungslos.
Dasselbe gilt prinzipiell auch für sprachliche Äusserungen: Zum einen lässt sich gar nicht feststellen, was derjenige sagen wollte, der eine Äusserung getan hat, denn er hat ja gesagt, was er gesagt hat, und eben gerade nichts anderes. Die typische Lehrerfrage also: “Was wollte uns der Dichter damit sagen?”, lässt sich immer dahingehend beantworten, dass er das sagen wollte, was er gesagt hat. Hätte er nämlich etwas anderes sagen wollen, hätte er es ja getan. Die Frage wäre dann einzig, warum er uns nichts anderes gesagt hat. Darauf aber gibt es keine Antwort. Zum anderen aber würde, selbst wenn es ihm gelänge, uns zu sagen, was er eigentlich sagen wollte, nur ein weiterer Text geschaffen, der seinerseits selbständig vor seinem Schöpfer stünde. Zum dritten aber müsste, was immer er wollte, uns eben ganz gleichgültig bleiben, aufgrund der Differenz von Gesagtem und Gewolltem, weil das Gewollte, soweit und sofern es nicht im Gesagten enthalten ist, eben für uns gar nicht erreichbar wäre. Soweit es aber darin enthalten und für uns erreichbar wäre, es eben damit bereits in uns wäre, also gar nicht erst erkannt oder begriffen werden müsste. Es ist also bereits unseres und nicht mehr dasjenige, was der Autor wollte oder der “Schöpfer”. Das bleibt also ganz irrelevant, ausser natürlich für den Autor selbst.
by Filifjonka | Jul 28, 2013
Ganz richtig, Epipur. Dazu gibt es eine hübsche Parabel von Franz Kafka
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Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer; das wiederholt sich immer wieder; schließlich kann man es vorausberechnen und es wird ein Teil der Ceremonie.
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