by Filifjonka | Mar 17, 2016
Ein anderer Freund starb plötzlich, entsetzlich, am Gepäckband eines ausländischen Flughafens. Seine Frau war einen Kofferkuli holen gegangen; als sie zurückkam, stand eine Menschentraube um etwas herum. Vielleicht war ein Koffer aufgeplatzt. Aber nein, ihr Mann war aufgeplatzt und bereits tot. Ein, zwei Jahre später, als meine Frau starb, schrieb sie mir: »Der Punkt ist – die Natur ist da sehr genau. Es tut exakt so weh, wie es die Sache verdient, darum genießt man den Schmerz gewissermaßen, glaube ich. Wenn es einem nichts ausmachte, würde es einem nichts ausmachen.
Julian Barnes, Lebensstufen (orig. Levels of Life), Kiepenheuer & Witsch, 2013
by Filifjonka | Mar 15, 2016
Ich ging in ein Londoner Kino und sah mir eine Direkt-Übertragung von Glucks Orpheus und Eurydike aus New York an. Vorher machte ich meine Hausaufgaben und hörte mir das Stück mit dem Libretto in der Hand an. Und ich dachte: Das kann überhaupt nicht funktionieren. Einem Mann stirbt die Frau, und seine Klagen rühren die Götter, sodass sie ihm schliesslich erlauben, in die Unterwelt hinabzusteigen, seine Frau zu suchen und zurückzuholen. Allerdings gibt es eine Bedingung: Er darf sie nicht ansehen, bis beide auf die Erde zurückgekehrt sind, sonst ist sie für ihn auf ewig verloren. Während er sie aus der Unterwelt hinausführt, bringt die Frau ihn dazu, sich nach ihr umzusehen; und dann stirbt sie; und dann klagt er noch anrührender um sie und zieht sein Schwert, um Selbstmord zu begehen; und dann erweckt der Gott der Liebe, durch diese Demonstration der Gattenliebe gnädig gestimmt, Eurydike wieder zum Leben. Also wirklich, wer soll denn das glauben? Mein Problem war nicht das Auftreten oder das Verhalten der Götter – das konnte ich alles leicht hinnehmen; mein Problem war die Gewissheit, dass sich niemand, der einigermassen bei Sinnen ist, umdrehen und Eurydike ansehen würde, weil er sich über die Folgen im Klaren ist. Und als wäre das noch nicht genug, sollte die Rolle des Orpheus, ursprünglich ein Kastrat oder Kontratenor, aber heutzutage eine Hosenrolle, in dieser Inszenierung von einer beleibten Altistin gespielt werden. Aber ich hatte Orpheus, diese Oper, die geradezu perfekt auf die Leidtragenden zugeschnitten ist, ziemlich unterschätzt, und so tat die Kunst in diesem Kino wieder einmal ihr Wunderwerk. Natürlich musste Orpheus sich nach der flehenden Eurydike umdrehen – wie konnte es anders sein? Denn obwohl »niemand, der noch bei Sinnen ist« das tun würde, ist er vor Liebe und Leid und Hoffnung völlig von Sinnen. Man verliert die ganze Welt um eines Blickes willen? Aber klar doch. Dazu ist die Welt doch da: damit man sie unter den richtigen Umständen verliert. Ist es überhaupt denkbar, dass man sich an sein Gelübde halt, wenn man Eurydikes Stimme hinter sich hört?
Julian Barnes, Lebensstufen, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2015
Genau so ist es. Nur Buchhalter und Gartenzwerge können etwas anderes glauben. Nicht nur in der Kunst. Wie merkwürdig ist doch, was wir alles vom Leben “denken”, wie wir es “erfassen” oder “verstehen”, obwohl dem unseren Erfahrungen unmittelbar und fast vollständig widersprechen.
by Filifjonka | Feb 21, 2016
Ich mag nicht mehr. Ich mag einfach nicht mehr.
Du kennst das ganz gewiss – und verstehst, ohne dass ich es erklären muss: Du bist so müde, dass Du nicht einmal sagen magst, was ist.
Ist nicht alles wirkliche Verständnis letztlich selbstverständlich und deshalb stumm, braucht keine Erklärung, keine Rechtfertigung (“Es gibt freilich Rechtfertigung; aber die Rechtfertigung hat ein Ende.” Wittgenstein, Über Gewissheit, Nr. 158)? Ist nicht jede Erklärung und jede Rechtfertigung ein Versuch der Abstraktion? Ein Versuch, das Unvergleichliche, das Einmalige in einen Kontext zu rücken, es herzuleiten (was ganz unnötig und sinnlos ist, denn es hat ja stattgefunden), es mit Anderem zu vergleichen und damit denjenigen verständlicher zu machen, die es nicht zu verstehen vermögen? Entwerten damit Erklärung und Rechtfertigung – trotz all ihrer gutgemeinten Ziele – nicht gerade das, was sie zu verteidigen vorgeben? Berauben sie es nicht seiner Einmaligkeit, seiner Evidenz?
Und sind Rechtfertigungen denn überhaupt möglich? Bleiben sie letztlich nicht immer sinnlos? Weil diejenigen, die verstehen, sie nicht benötigen sie, und sie diejenigen, die es nicht tun, nicht zu überzeugen vermögen.
Vielleicht ist dies, was uns erschöpft, dass Rechtfertigung und Erklärung letztlich nur dort überhaupt möglich, wo sie gerade nicht nötig sind.
by Filifjonka | Feb 15, 2016
Die NZZ erläutert zum Fall der Flucht eines Strafgefangenen gemeinsam mit seiner Aufseherin
An einen ähnlichen Vorfall wie jenen im Gefängnis Limmattal kann sich hierzulande niemand erinnern. Dennoch wird das Handeln der jungen Aufseherin Konsequenzen haben, und das ist gut so. Der Fall, so singulär er ist, zeigt die Notwendigkeit auf, die bestehenden Sicherheitskonzepte neu zu überprüfen, Eingespieltes zu hinterfragen, den Faktor Mensch ernster zu nehmen.
So so. Daraus also, dass es etwas praktisch nicht vorkommt, ergibt sich das Ungenügen der Sicherheit. Ebenso natürlich wie daraus, dass es häufig oder gar dauernd vorkommt.
Der Kluge schliesst daraus, dass die Sicherheit offenbar grundsätzlich und immer ungenügend ist. Das scheint dem gegenwärtigen Verständnis von Sicherheit inhärent.
Bleibt einzig die Frage, wieso ein offenbar derart gefährlicher Prozess wie das Leben (das ja per definitionem lebensgefährlich ist) überhaupt in Angriff genommen bzw. fortgeführt werden sollte.
by Filifjonka | Feb 15, 2016
Gestern am Radio gehört:
Wir werden in der Zukunft sehen, ob das eine tragbare Lösung ist.
Ach ja? Warum denn dort? Warum werden wir es denn nicht in der Gegenwart sehen, oder gar in der Vergangenheit? Wäre doch apart: “Wer werden das in der Vergangenheit sehen.” und “Wir werden das in der Gegenwart sehen.” Analog könnten wir dann wohl auch die Vergangenheit in der Zukunft haben. “Wir haben das nächste Woche gesehen.”
by Filifjonka | Feb 6, 2016
Nun denn. Syngenta wird also doch verkauft. Zwar nicht an Amerikaner, sondern an Chinesen. Allüberall aber herrscht Misstrauen und Unsicherheit, weil die US-amerikanischen Wettbewerbsbehörden den Deal doch noch verhindern könnten. Merkwürdig, die amerikanischen, nicht die schweizerischen oder die chinesischen? Inwiefern könnte denn der US-amerikanische Wettbewerb eingeschränkt sein durch die Übernahme einer ausländischen Unternehmung durch eine andere ausländische Unternehmung, so fragt sich der naive Laie?
Rudolf Strahm, der abtretende Preisüberwacher, erklärt das in einem Gespräch vom 5. Februar 2016 (zu hören auf DRS4 hier) unverhohlen mit nationalistischen Motiven (ca. ab dem Zeitpunkt 3’15”). Die Interviewerin B. Widmer ist ebenfalls sehr direkt und sagt gerade heraus, dass die US-amerikanische Wettbewerbsbehörde prüfe, ob “diese Übernahme” gegen Landesinteressen verstosse. Notabene US-amerikanische Landesinteressen. Strahm erläutert, dass die Amerikaner bei multinationalen Konzernen “immer über fast unbeschränkte Macht” verfügten, weil sie ein wichtiger Markt seien, den sie eben einfach für andere sperren könnten. Eine solche Entscheidung wäre “eigentlich gegen alle Börsenregeln, gegen alle internationalen Regeln, möglicherweise auch gegen GATT, WTO und TRIPS-Abkommen”, aber die Amerikaner könnten sich eben durchsetzen.
Was für ein schönes Beispiel, dass Regeln für die Mächtigen da sind. Natürlich, wirst Du sagen, denn die Mächtigen bestimmen über den Ausnahmezustand. D.h. nichts anderes, als dass die Regeln angewendet werden, wenn sie einen Schwächeren betreffen, oder jedenfalls kein Interesse des Mächtigen daran besteht, sie nicht anzuwenden. Im umgekehrten Fall, gilt ganz Anderes.
Regeln, so scheint es, nützen primär den Mächtigen. Und zwar auch, und das ist die Crux, demokratisch erlassene (und damit höchst legitime und legitimierte) Regeln. Denn die eigentliche Macht liegt nicht in der Entscheidung, welche Regeln gelten sollen, sondern in derjenigen, auf welche Fälle sie angewendet werden sollen, d.h. eben in der Möglichkeit, sie nicht anzuwenden. Die eigentliche Macht wohnt in der Ausnahme.
Wenn aber auch nur teilweise stimmt, dass Regeln den Mächtigen nützen und die Ohnmächtigen einschränken, was bedeutet es dann, dass in der westlichen Welt ganz ohne Ausnahme die Zahl der Regeln zunimmt, ja explodiert? Entwickelt sich dieses krebsartige Wuchern von Regeln parallel zur Konzentration von Reichtum oder läuft es dieser Entwicklung zuwider? Ich fürchte, die Antwort ist deutlich, auch wenn sie uns nicht gefällt. Wer mächtig ist, hat wenig Freunde, aber Regeln gehören – wider alle Erwartung – dazu.
Letzte Kommentare