Wie ist das Aussergewöhnliche?

Nach dem Tod eines Bewohners eines Pflegeheims kommt der Verdacht auf, das Ableben könnte auf die fehlerhafte Verabreichung von Medikamenten zurückzuführen sein, die Sache wird untersucht. Als “aussergewöhnlicher Todesfall”.

Die Berner Zeitung geht der Sache nach, befragt einen Staatsanwalt und eine sonstige Beamte und kommt zum titelwürdigen Ergebnis:

Aussergewöhnliche Todesfälle sind selten

Wer kommt denn auch auf so etwas.

Wobei: Ganz so banal ist die Erkenntnis nicht, ist doch eigentlich bereits die Gleichsetzung von Gewöhnlichkeit mit Häufigkeit eine sprachliche und kulturelle Leistung. Selbst wenn in eine Gesellschaft Tötungsdelikte sehr häufig wären, wären sie doch – so nehmen wir einmal an – aussergewöhnliche Todesfälle, weil der Tod nicht eindeutig auf eine natürliche Einstellung des Betriebs des menschlichen Körpers ohne spezifische äussere Einwirkungen zurückzuführen wäre. So besehen weist die prima facie erheiternde Schlagzeile doch darauf hin, dass zwischen den (faktischen) Befund der Häufigkeit des Auftretens eines Phänomens und dessen (normativer) Bewertung als gewöhnlich oder ungewöhnlich keine Schlüsse gezogen werden können.

Circulus …

schar

Diese Verpackung lässt sich mühelos mit jeder haushaltsüblichen Schere öffnen!

Sonst ist es allerdings etwas schwieriger. Aber wie sagt der Volksmund doch so schön: “Wer hat, dem wird gegeben.” (vgl. bereits Mt 25, 29).

Schönheit …

Wir haben schon verschiedentlich über die Haut gesprochen, über das Leiden, die Sinnlichkeit als einzig zuverlässige (weil notwendig konkrete) Kriterien. Im erwähnten Zwillingsstück zum “Wiedergefundenen Freund” von Fred Uhlman, der Erzählung “No Coward Soul Im Mine” findet sich eine sehr hübsche Passage, die das für die Schönheit illustriert (Der wiedergefundene Freund, Zweiter Teil: Die Aufzeichnungen des Konradin von Hohenfels, DVA 1989, 103 f.):

Ich erinnere mich, wie ich einmal im Bus einer eher durchschnittlichen Frau gegenübersaß. Sie erregte meine Begier mehr als jede Frau, der ich begegnet bin, und ich bin einigen der schönsten Frauen begegnet. Ich wollte nur noch eines: mit ihr ms Bett gehen. Sie tat nichts, sie sah mich nur an, während sich ihre Lippen, sehr sinnliche Lippen, leicht öffneten. Ich war so erregt, daß ich ihr folgen wollte, als sie aufstand, aber natürlich blieb ich sitzen, wohIerzogen wie ich war. Aber sie verfolgte mich in meinen Träumen: Ich sah ihren prachtvollen Hintern unter dem knapp sitzenden Rock. (Gab es nicht die Statue einer griechischen Göttin »mit dem schönen Gesäß«?) Wie soll man sich die schöne Helena vorstellen? Ich habe keine Ahnung, wie sie aussah. Aber es ist überliefert, daß Tausende für sie gestorben sind und Weib und Kinder vergessen haben. Ob aber ich sie als Gegenüber im Bus unwiderstehlich gefunden hätte? Vielleicht wäre sie mir als Schönheit erschienen. Ob sie jedoch in mir den Wunsch erregt hätte, mit ihr ins Bett zu gehen? Hätte ich von ihrem Hintern geträumt?

Klassische griechische Schönheit kann jede Liebe töten. Ich habe in meinem kurzen Leben zwar nur einige wirklich schöne Frauen kennengelernt, aber sie ließen mich kalt, mein Herz schlug nicht schneller bei ihrem Anblick, und ich spürte nicht das geringste Verlangen, sie zu entkleiden.

Ich habe mir da eine Theorie zurechtgelegt, von er ich jetzt in der Vergangenheitsform sprechen muss: Einzig jene Frauen waren schön, bei denen man begehrte, sie auszuziehen, ihre Brüste zu berühren, ihren Hintern anzufassen, ihr Haar zu streicheln, sie einzuatmen, sie aufzufressen – ob Hure oder Herzogin, das spielte keine Rolle.

Wie wunderbar ehrlich das ist. Handelt es sich nicht immer genau darum: Sich selbst zu spüren, seine eigene Haut, seine eigenen Empfindungen freizulegen unter all dem Wust von Ideen, Konzepten und Vorstellungen anderer (die wir ja immer auch ein wenig übernehmen)? Und wenn wir das tun, wird nicht Schönheit sehr persönlich, unvergleichlich? Wie könnten wir da mit einem überkommenen oder herrschenden Ideal übereinstimmen? Werden nicht sogar die Merkmale, die sie für uns konstituieren, unsagbar? Wie könnten wir das je erklären? Und ist dies nicht gerade der Kern der Wahrheit? Dass sie nicht sagbar ist? Und gilt – sobald es tatsächlich Unseres ist – gleiches nicht für die Liebe und – ja –, auch für den Schmerz. Noch einmal Auden (The Sea and the Mirror: A Commentary on Shakespeare’s The Tempest, 1944; Prospero to Ariel):

                                    Can I learn to suffer
Without saying something ironic or funny
On suffering? I never suspected the way of truth
Was a way of silence where affectionate chat
Is but a robbers’ ambush and even good music
In shocking taste; and you, of course, never told me.

Und nachträglich entdeckt (wie sich doch die Dinge zusammenfügen und die Bücher sich finden): Aus der eben erwähnten Erzählung von Uhlman ( 118) genau dies:

Echte Schönheit verlangt völlige Stille. Ein einziges Wort kann sie vernichten. Schönheit, große Schönheit kann schmerzen. Es gibt Augenblicke, da möchte man eigentlich weinen, und jeder Laut – von einer Stimme, einem Auto, einem Radio, sogar von einem Raben – kann alles zerstören, wie ein Stein, der in einen Teich mit roten und weißen Seerosen geworfen wird.

Leid … nebenher

Eine meiner Lieblingskompositionen ist die Sonate K87/L33/P43 in h-moll (Andante mosso) von Domenico Scarlatti (1685-1757). 22 verschiedene Aufnahmen besitze ich davon und ich möchte keine missen. Die kürzeste Version dauert 2 Minuten 48 Sekunde (gespielt von Vladimir Horowitz), kurz sind auch die von Pierre Hantaï (3’27”) und Marcelle Meyer (3’48”; die andere Aufnahme von ihr, 7 Jahre später, 1953, dauert mit 5’32” erheblich länger). Die längste Version nimmt 7’14” (Anne Queffelec) in Anspruch. Ähnlich lang sind auch Christian Zacharias (6’43”) und Tedi Papavrami (6’33”, Transkription für Violine solo). Es gibt viele Einspielungen auch auf dem Netzt. Hier nur eine davon:

Manchmal frage ich mich, was an dem Stück so Besonderes ist, was mich daran bindet und damit verbindet? Vieles und Verschiedenes, natürlich, wie immer. Aber eines vielleicht mehr als alles andere: Die Aporie von Glück und Leid, die darin perfekt zum Ausdruck kommt.

Beginnen wir mit dem Glück, das von der Sonate ausgeht, das sie regelrecht ausstrahlt. Das ist kein hüpfendes, übermütiges Glück, es ist ein ruhiges, bedächtiges, tröstendes Glück, eines das um die dunklen Zeiten weiss, die Schmerzen und das Leid. Dieses Glück aber entsteht nicht vor dem Hintergrund des Unglücks, das überwunden oder gemeistert ist, es ist kein Aufatmen nach bestandener Prüfung, sondern eher eine pflichtbewusste Willensanstrengung. Wie das etwa in den “Zehn Wegen zur Tugend” von Zbigniew Herbert zum Ausdruck kommt, wo es heisst:

7. Try to be happy, for only such people can make others happy.

Dasselbe Glück, das sich ganz ähnlich auch bei Jorge Luis Borges und seinen Fragmenten eines apokryphen Evangeliums findet:

4. Unselig der weint, denn er hat bereits die elende Gewohnheit des Weinens.

5. Selig die wissen, daß das Leiden keine Krone der Glorie ist.

Glück also als Leistung, als Grossmut und bewusst Gewolltes. Aber natürlich ist dann auch das Leid darin enthalten. Kein schreiendes, scharfes, schneidendes Leid, auch kein weinendes (dazu ist es zu gross), eher ein sanftes, resigniertes, weiches, im eigentlichen Sinne trostloses Unglück. Ein Leiden, das der englische Dichter W. H. Auden in seinem Gedicht Musee des Beaux Arts perfekt beschrieben hat:

About suffering they were never wrong,
The old Masters: how well they understood
Its human position: how it takes place
While someone else is eating or opening a window or just walking dully along;
How, when the aged are reverently, passionately waiting
For the miraculous birth, there always must be
Children who did not specially want it to happen, skating
On a pond at the edge of the wood:
They never forgot
That even the dreadful martyrdom must run its course
Anyhow in a corner, some untidy spot
Where the dogs go on with their doggy life and the torturer’s horse
Scratches its innocent behind on a tree.

Das Gedicht macht in seiner zweiten Hälfte seinen Bezug explizit, nämlich die “Landschaft mit dem Sturz des Ikarus” von Pieter Bruegel.

Bruegel,_Pieter_de_Oude_-_De_val_van_icarus_-_hi_res

Vom ertrinkenden Ikarus nämlich sind nur noch seine Beine zu sehen, und auch das nur peripher, rechts unten. Und genau dies, die notwendige Nebensächlichkeit, die Selbstverständlichkeit des Leids, so scheint mir, ist der funkelnde Kern dieser wunderbaren Sonate.

Glück und Bewusstsein

Das Bewusstsein des Glücks zerstört es wahrscheinlich, reflektiert es, relativiert es, macht es angreifbar, dem Vergleich zugänglich. Wahrhaft glücklich sind wahrscheinlich nur die Naiven. Dass wir in dem Zustand waren, ist uns immer erst hinterher zugänglich. Das Paradies ist immer verloren, von Anbeginn an. Das biblische Bild vom Baum der Erkenntnis ist schon sehr treffend. Umgekehrt scheint mir, und das ist einigermassen verstörend, dass unser Unglück durch die Tatsache, dass wir darum wissen, noch vergrössert wird. Sinn ergibt das nur, wenn Bewusstsein selbst eine Ursache des Unglücks ist. Und möglicherweise ist genau dies der Fall – und wohl auch der tiefere Grund, weshalb wir so ein so starkes Bedürfnis haben, uns zu betäuben, uns zu verlieren. Vielleicht ist Bewusstsein ein paradoxes Phänomen: höchstes Ziel und Vollendung wäre die eigene Selbstaufhebung.

Und darin, übrigens, entspricht es der Liebe. Merkwürdigerweise.
Aber das macht es nicht verständlicher.

Wetter und Unwetter

Gerade gehört:

… die Wetterstationen gaben Unwetterwarnungen aus …

Warum taten das nicht die Unwetterstationen? Tun die ihre Arbeit nicht? Oder geben die etwa die Wetterwarnungen aus?