Aussergewöhnlich

Als ich klein war, glaubte ich, dass viel zu wissen helfen würde. Viel zu lesen, so meinte ich, sei eo ipso gut. Noch während meines Studiums verfertigte ich Listen von Büchern, die ich unbedingt lesen musste. Die Tatsache, dass ein Leben dazu nicht ausreichen würde, skandalisierte mich, doch liess ich mich nicht abhalten, wenigstens das Mögliche zu versuchen. Und so las ich denn mit Hingabe und Begeisterung, mit Horror und Glückseligkeit. Jeden Tag ein Buch. Was für ein Irrwitz! Ich hatte nicht bedacht, dass niemand da sein würde, es mit mir zu teilen. Auch Du hast mich nicht gewarnt. Natürlich. Viel zu lesen, zu wissen oder zu verstehen, scharf zu sehen oder sehr genau zu hören, entfernt uns von den anderen. Sie verstehen nicht, wovon wir reden.

Das Aussergewöhnliche erscheint uns als Geschenk. Kindern gleich lassen wir uns übertölpeln. Nehmen es stolz und dankbar entgegen. Tatsächlich aber bezahlen wir es teuer. Mit Sprachlosigkeit. Mit Schweigen. Also letztlich mit unserer Einsamkeit. Vielleicht liegt der Schlüssel zum Glück in der Beschränktheit.

Gott muss sehr einsam sein. Und sehr traurig.

Schweigen

Wie seltsam: Immer weiss ich, immer, wenn Du mich anlügst. Die Stimme schwankt und stolpert, die Augen buchstabieren es auch für den Dümmsten. Am deutlichsten aber: Dein Schweigen. Meist sagen wir das Wichtigste, wenn wir nicht reden.

Liebe töten

Diejenigen, die uns lieben, ängstigen uns mit ihrer Liebe. Sie wollen wir nicht enttäuschen,  ihr Urteil ist uns wichtig, vor ihnen schämen wir uns. Wie viel leichter fällt uns doch, einem völlig Fremden, einem, der uns ganz und gar egal ist, unsere dunklen Geheimnisse, unsre Lügen und Missetaten zu offenbaren. Unsere Liebe zu denjenigen, die uns lieben, unsere Achtung und unser Respekt für sie, zwingen uns in ein Theaterspiel, das uns schwer wird. Unsere Wut aber, unseren Schmerz und unsere Kränkungen zeigen wir nicht denjenigen, die uns egal sind, denn ihnen gegenüber spielen wir unsere Rolle so gut wir es vermögen, sondern denjenigen, die uns lieben. Nicht der kleinste Teil der Dunkelheit gründet wohl darin, dass wir diejenigen, die uns lieben, unvergleichlich stärker verletzen als alle anderen, dass wir töten, was wir lieben.

You+Me

Normalerweise schreibe ich ja nicht über irgendwelche aktuellen Songs, aber dieses Mal muss ich es tun. Alecia Moore, besser bekannt als Pink hat mit Dallas Green ein Duo namens You+Me gebildet und eine CD aufgenommen, ein Folk-Album. Rose Ave. heisst es und es ist schlicht umwerfend. Schau Dir das Video des Titelsongs an. Auch der Rest des Albums ist ausgezeichnet. Über die Liebe wird gesungen, und wie!

Unlicht

Das eigentlich Teuflische nun äussert sich nicht etwa in der primitiven Vorstellung, dass für die Dauer seiner – gewiss vorübergehenden – Herrschaft die Bösen stärker sind als die Guten. Vielmehr wäre, wie Sie wissen, solch ein Zustand ein natürlicher, will sagen: ein gewöhnlicher. Auch das Böse ist nämlich ein Teil des Guten: “Nichts findet man in der Welt” – wie der heilige Thomas von Aquino sagt – “was vollständig übel ist.” Aber die Zeiten der Hölle erkennt man nicht an der Herrschaft des schlechtweg Bösen, sondern an unserer Ratlosigkeit, zu sehen, was eigentlich Gut und was eigentlich Böse ist. Es ist nicht Nacht, und es ist auch nicht Tag in der Welt. Es ist gleichsam Sonnenfinsternis. […] weder Licht noch Finsternis, sondern eher eine Art Unlicht […]

Joseph Roth: Glauben und Fortschritt, Vortrag aus dem Jahre 1936

So ist es, darkness visible (Milton). Nicht seine Herrschaft, der Verlust der Unterscheidungen ist der eigentliche Triumph des Bösen.