Um vier stand ich auf, tippte die Vorwahlnummer von Marburg an der Lahn ins Telefon und dann fünf beliebige Ziffern.
Eine Frauenstimme meldete sich, ausgeschlafen wie der helle Mittag.
Ich sagte: “Ihre Nummer ist mir zufällig in die Finger gerutscht. Ich möchte mit jemandem sprechen, der in Marburg lebt, weil ich selbst vor vielen Jahren dort gelebt habe.”
Sie räusperte sich wie eine Therapeutin. “Sind Sie schlaflos?”
“Ja”, sagte ich.
“Wundern Sie sich nicht, dass ich so schnell abgehoben hab?+
“Doch.”
“Ich bin auch schlaflos. Ich warte auf meinen Mann.”
“Betrügt er Sie?”
“Gestern”, sagte sie, “war mein Sohn bei mir. Er ist seit einem Jahr verheiratet und betrügt bereits seine Frau. Er setzte sich zu mir in die Küche, bei halbem Licht kann er plötzlich aussehen wie ein Fremder. Er fragte mich, ob sein Vater mich betrügt. Ich sagte: Nein. Da hat er gegrinst. Als wären die beiden schon oft genug gemeinsam auf Tour gewesen.”
Michael Köhlmeier, Die Republik der Schlaflosen,
Erzählung aus: Nachts um eins am Telefon, Wien 2005
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