Gemeinschaft und der Tod

Es gab also Menschen ausser ihm, die daran laborierten zu sterben und es wussten. Natürlich hatte er das schon vorher geahnt, aber es war ihm nicht bewusst geworden, er sah solche einfach nicht. Das ist ja der Kernpunkt der sozialen Frage. Es existierten diese Elenden, diese hungrigen Massen, diese leiblich oder geistig Unterernährten, Arbeiter, heimatlose Bauern, Verbrecher oder sonstige wahrscheinlich minderwertige Existenzen, und warum sollten sie nicht minderwertig sein, sie krepierten ohnedies vielleicht noch schneller; sie existierten, diese Elenden, in ihrem schamlosen, breiten Elend, gewiss, man wusste das, sie existierten, aber man sah sie nicht, wollte sie nicht sehen, man sah weg, kurz, man sass ihnen nicht gegenüber in der gleichen Lage wie sie.
Er sass ihr gegenüber, ganz nah. Er musste sterben. Sie musste sterben. Er wusste es. Sie wusste es. Aber hatter er nicht einen Trost mehr, da er jetzt, eben in ihr, den Kameraden seines Elends sah? Freilich hätte er bedenken sollen, dass letzten Endes alle Menschen seine Kameraden seien. Alle lebten. Alle mussten sterben. Alle wussten es.

H. Kesten, Vergebliche Flucht, 1926

Huren und Literatur

Es gibt in der modernen Literatur kaum einen Fall, in dem ein verzweifelter, ein unglücklicher Mensch, ein Mörder, Liebhaber, Bankdefraudant oder sonst einer, der kurzweg entschlossen ist, das Leben zu geniessen, nicht zu einer Dirne gegangen wäre. In Dramen, wo der Schaulust des Theaterpublikums Rechnung getragen werden muss, ist es gewöhnlich ein ganzes Bordell, das vor die Rampe tritt, in Romanen genügt schon eine einzeln auftretende Dirne. Es ist einem belesenen Menschen heutzutage so selbstverständlich, auf dem dramatischen Leidensweg eines jungen Menschen das Freudenhaus zu finden, dass Garrett sich wunderte, warum er so lange gebraucht hatte, um dieses Allheilmittel derjenigen Menschen zu finden, denen die Wonnen des Bauches noch nicht das letzte Erinnern geraubt haben an ihre niedergetretene Seele.

H. Kesten, Vergebliche Flucht,  1926

Ostende und die Haut

Ist es nicht phantastisch? Egal wie viele Sonnenuntergänge man gesehen hat, es wird nicht langweilig. Egal wie oft man auch am Meer war, es bleibt überwältigend. Und egal wie viel man gelesen hat, immer kann man Entdeckungen machen. Kaum bin ich mit den beiden Herrren am Strand zu Ende, fällt mir ein anderes kleines Buch in die Hände, das ich vor einiger Zeit gekauft hatte: Volker Weidermann, Ostende – 1936, Sommer der Freundschaft, Kiepenheuer & Witsch 2014. Weidermann (*1969) kenne ich von seinem Buch der verbrannten Bücher (Kiepenheuer & Witsch 2008), einer Art Lexikon der von den Nazis verfolgten Autoren. Nicht gelesen habe ich dagegen seine Literaturgeschichte Lichtjahre, die erhebliche Kontroversen ausgelöst hat.

Ostende erzählt, wie der Untertitel bereits andeutet, die Begegnung zweier Freunde im Sommer 1936 in Ostende. Es handelt sich um Stefan Zweig (1881-1942) und Joseph Roth (1894-1939). Keine gute Zeit für kritische Geister. Keine gute Zeit für Juden, und beide Freunde sind Juden. Natürlich tauchen neben den beiden noch viele andere prominente Exilautoren auf, etwa Egon Erwin Kisch (1885-1948) oder Hermann Kesten (1900-1996) und insbesondere auch Roths spätere Geliebte, Irmgard Keun (1905-1982), eine der autnomsten und eindrücklichsten Frauen des 20. Jahrhundert überhaupt.

Eine kleine Geschichte will ich wiedergeben zu Roth, damit Du siehst, warum ich ihn liebe. Roth spricht mit seinem Freund Soma Morgenstern (1890-1976) über das Alter:

Wie er sich selbst als Greis sehe, wollte er von Morgenstern wissen. Der hatte darüber noch nicht nachgedacht. Die Männer seiner Familie wurden ohnehin nicht alt. Doch Roth hatte oft und viel darüber nachgedacht. Er würde sehr alt werden, da war er sich sicher. Er erklärte dem verwunderten Freund: “Und immer sehe ich mich so: Ich bin ein alter, magerer Greis. Ich habe ein langes schwarzes Gewand an mit langen Ärmeln, die meine Hände fast ganz bedecken. Es ist Herbst, und ich gehe in einem Garten spazieren und denke mir listige Intrigen aus gegen meine Feinde. Gegen meine Feinde und auch gegen meine Freunde.”

Ist das nicht schön? Die zweite Geschichte betrifft Roth und seine Begegnung mit Irmgard Keun.

Sie geben sich die Hand, freundlich, Irmgard Keun sieht seine zarten, weissen Hände, die aus den schwarzen Ärmeln ragen, sie sieht den blonden, fransigen Schnurrbart, Asche auf seinem Rock. “Meine Haut hat sofort ‘Ja’ gesagt”, schreibt sie später. … 

Sie sagt später, sie habe nie zuvor und nie danach einen Mann mit so grosser sexueller Anziehungskraft kennengelernt wie Joseph Roth. An diesem Abend. Im Cafe Flore. Am liebsten würde sie sofort mit ihm gehen, egal wohin. Nur weiter zuhören und erzählen. Bei ihm sein. Und trinken.

Ist das nicht präzise? Und ehrlich. Wir haben hier ja bereits über die Haut gesprochen (etwa hier oder hier). Und Keun kennt das offenbar. Tatsächlich gibt es kein besseres, ja kein anderes Kriterium als das ‘Ja’ der Haut.

Puppentheater

Ich mag nicht mehr funktionieren. Weiss zwar nicht warum, aber ich kann das wirklich gut. Es funktioniert mich. Ich spiele mich recht überzeugend. Kaum einer merkt etwas. Manchmal nicht einmal ich selbst. Merkwürdigerweise. Ich spiele mich inzwischen so gut, dass selbst ich den Unterschied zwischen meiner Darstellung und mir manchmal nicht mehr finde. Nur eben –: ich mag nicht mehr. Und dann weiss ich es wieder: Kaum bin ich allein mit mir, senkt sich die Nacht. Und verschlingt mich.

Zufall als Beleidigung

Vielleicht am allerschwersten zu ertragen bleibt, dass der innerste Kern des Lebens Ungerechtigkeit ist. Oder genauer: Zufälligkeit.

Wie viele Menschen waren nicht freundlich zu mir, nett und hilfsbereit. Ohne Grund und ganz unverdient. Nicht Dutzende oder Tausende gibt es, Millionen, die Freundlichkeit, Hilfe, Aufmerksamkeit und Zuneigung nötiger gehabt und mehr verdient hätten, als ich. Wie könnte ich diese Schuld je abtragen?

Unser Weh findet keinen Grund. Es bleibt essentiell nicht nur Nebensächlichkeit (das haben wir bereits festgestellt), sondern Zufälligkeit. Dies zu erkennen ist, was uns verstummen lässt. Sogar gequält zu werden, wäre uns erträglicher, wenn die Quälerei keine Zufälligkeit wäre.