Schwierigkeiten mit Regeln

… zur hier thematisierten Problematik der Regel auch Montherlant (Carnet XX):

La principale difficulté, après avoir découvert et adopté une nouvelle règle de vie, est de découvrir quand il faut la transgresser.

Ist es nicht merkwürdig, wie beruhigt wir sind, wenn unsere Positionen, von Anderen (und noch dazu Berühmten) geteilt werden? Als ob das etwas an ihrer Richtigkeit zu ändern vermöchte.

Vergessen als Tugend

Filifjonka hat hier von der Bedeutung des Vergessens gesprochen. Was für eine Freude, dafür bei meinem Liebling Montherlant (Carnet XX) )einen Beleg zu finden:

Je dirai encore que l’oubli est une vertu, ou un défaut, noble. Oubli, c’est désintéressement et largesse. Le contraire de la lourdeur. Oublier les injures. “Il faut se dire que les hommes sont ainsi, et passer”. Oublier les choses les plus importantes pour soi, à quoi s’accrocheraient tous les autres. Oublier ce qu’on a fait de bien.
(Oublier les services qu’on vous a rendus est comporté dans ce noble flot du Léthé).

Ziemlich ähnlich hatte das Nietzsche formuliert (Vergessen als Fähigkeit, als Leistung).

Sex als Verteidigung vor dem Tod

Montherlant zum Sex als einziger Verteidigung vor dem Nichts (natürlich kann man das, der gegenwärtigen Prüderie entsprechend, auch Sinnlichkeit nennen, doch der Text ist radikaler: Carnet XIX, 1930/1931, in: Essais, Bibliothèque de la Pleiade, Paris 1963, 975):

Nous lisons souvent des variations sur : “L’homme ne peut rien pour l’homme. On reste toujours seul.” C’est de la littérature, et fausse. L’homme peut tout pour l’homme. Dans mes poches d’incompréhensible désespoir, au temps des Voyageurs traqués, une demi-heure de plaisir physique, donnée par mon semblable, et le verre de mes lunettes était changé : le monde n’était plus ce monde de suicide où je m’enfonçais depuis des jours. Et qu’est-ce qu’une “solitude” remplie du souvenir et de l’attente de la créature? On est deux ; ce n’est pas une solitude. Je serais prêt à créer une divinité pour pouvoir la remercier de n’avoir jamais été abandonné de ce secours humain de la chair, qui m’a maintenu jusqu’aujourd’hui la tête hors de l’eau.

Je ressasse le mot de Gobineau : “Il y a le travail, puis l’amour, puis rien” (en intervertissant les deux premiers termes). Amour, travail : des passions, ou plutôt, au point où j’en ai besoin, je les appellerais de la drogue. Si la maladie ou des circonstances sociales me privaient à la fois de l’un et de l’autre, que deviendrais-je? Nous retombons sur le suicide.

Erwähnt sei (um es ein wenig komplexer zu machen), dass der erwähnte Joseph Arthur de Gobineau (1816-1882) gemeinhin als Rassist gilt (und auch als Antisemit, was allerdings nicht unbestritten ist), er sicher aber nicht weniger elitär war als Montherlant und damit genauso unzeitgemäss wie dieser. Erwähnt sei auch, dass sich letztlich bei Montherlant der Tod durchgesetzt hat (aber das tut er ja immer), was einmal mehr beweist: Man kann einfach nicht immer vögeln.

Tadeusz und das Regime

“Orden sind schön”, sagte Tadeusz, “aber wir müssen sehen, was darunter ist”, – er zeigte unter den Tisch –, “und das ist schwer.” Seine Stimme war ganz leise, als hätte er Kreide gefressen. Bei Leuten wie ihm, dachte ich, nützt alles nichts, kein Druck, keine Verführung; er ist ein kleiner, weisshaariger Dickkopf. Er sieht alles ein. Dagegen kommt kein Regime an.

H. M. Enzensberger: Ach Europa!, Frankfurt 1987, 368

Die kluge Else: Identitätsprobleme

Mir gefällt auch “Die kluge Else” sehr gut (ebenfalls von Jacob und Wilhelm Grimm aufgeschrieben).

[…] Da eilte Hans geschwind heim, und holte ein Vogelgarn mit kleinen Schellen und hängte es um sie herum; und sie schlief noch immer fort. Dann lief er heim, schloß die Hausthüre zu und setzte sich auf seinen Stuhl und arbeitete. Endlich, als es schon ganz dunkel war, erwachte die kluge Else, und als sie aufstand, rappelte es um sie herum, und die Schellen klingelten bei jedem Schritte, den sie that. Da erschrack sie, ward irre ob sie auch wirklich die kluge Else wäre und sprach „bin ichs, oder bin ichs nicht?“ Sie wußte aber nicht was sie darauf antworten sollte und stand eine Zeitlang zweifelhaft: endlich dachte sie „ich will nach Haus gehen und fragen ob ichs bin oder ob ichs nicht bin, die werdens ja wissen.“ Sie lief vor ihre Hausthüre, aber die war verschlossen: da klopfte sie an das Fenster und rief „Hans, ist die Else drinnen?“ „Ja,“ antwortete der Hans, „sie ist drinnen.“ Da erschrak sie, und sprach „ach Gott, dann bin ichs nicht,“ und gieng vor eine andere Thür; als aber die Leute das Klingeln der Schellen hörten, wollten sie nicht aufmachen, und sie konnte nirgend unterkommen. Da lief sie fort zum Dorfe hinaus, und niemand hat sie wieder gesehen.