Utilitarismus, Wissen, Glück und Fernsehen

In seinem Buch Utilitarianism schreibt John Stuart Mill:

It is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied. And if the fool, or the pig, is of a different opinion, it is because they only know their own side of the question. The other party to the comparison knows both sides.

Demzufolge würde jeder, der sowohl das Leben des unglücklichen Sokrates als auch das Leben eines glücklichen Schweines gelebt hätte, sich für das unglückliche Leben Sokrates entscheiden.

Ich sehe nicht ein, erstens warum das Leben von Sokrates wertvoller sein sollte und zweitens was ein wertvolles Leben überhaupt sein soll. Ist ein unglückliches Leben im Denken und mit viel Wissen wünschenswerter als ein glückliches Leben als Idiot? Kann Wissen das Glück ersetzen?

Mir scheint, dass jeder sein eigenes Leben leben darf und für sich selber bestimmen darf, welches Leben wertvoll ist. Wertvoll ist das Leben, dass der Lebende wertvoll findet.

Ovid schrieb in den Metamorphosen (I, 84-86):

[…]

pronaque cum spectent animalia cetera terram

os homini sublime dedit caelumque tueri

iussit et erectos ad sidera tollere vultus […]

Gemäss Ovid wurde dem Menschen ein Gesicht verschafft, das ihm erlaubt nach oben, in den Himmel, zu schauen, während die Tiere alle den Boden anschauen.

Ist das Denken, d.h. die Möglichkeit sich von einer konkreten Situation loszulösen, sich von Aussen zu betrachten, die Möglichkeit sich Gedanken zu machen, der wertvolle Unterschied zwischen dem Tier und dem Menschen, zwischen Sokrates und dem Schwein? Kann das Wissen mit dem Denken erreicht werden?

Nehmen wir ein einfaches Beispiel (das sog. “Fernsehbeispiel”). Dabei werden wir feststellen, dass das Ganze komplexer ist, als was es scheint.

Seien zwei Männer. Der einer isst etwas, was er sehr gerne hat. Der zweite kuckt den ersten auf seinem Fernsehen, und sieht wie er etwas isst, was er selber auch gerne hat. Er macht sich Gedanken über wie der erste Mann isst, über unser tägliches Leben, über die Arbeitsteilung, über das Funktionieren der Gesellschaft.

Der erste Mann wäre in diesem Fall der glückliche Schwein, der zweite der unglückliche Sokrates. Ist jedermann noch einverstanden, dass es besser ist Sokrates zu sein als der Schwein?

Das Fernsehbeispiel erlaubt, die Aussage von Mill zu relativieren. Auf den ersten Blick scheint das Lebensmoment als Schwein wünschenswerter.

Ferner erlaubt das Fernsehbeispiel zu verstehen, dass es diese zwei Lebensarten nicht gibt. Denn der zuschauende und nachdenkende Sokrates, das was er sieht nur wirklich verstehen kann, wenn er es auch schon selber erlebt hat.

Sokrates ist in diesem Fall passiv, er sieht und denkt, handelt aber nicht.

Handeln und Denken schliessen sich nur im Moment gegenseitig aus. Über die Zeit ermöglichen sie erst das Leben, d.h. sie ermöglichen sich gegenseitig. Derjenige der nur denkt lebt nicht, und derjenige der nicht denkt lebt nicht, sondern ist einfach da.

Es handelt sich somit nicht um Lebensarten sondern um zwei Lebensmomente. Der Sokrates, der vor dem Fernseher steht, hat vor zwei Stunden auch etwas gegessen und wird noch in einer Stunde wahrscheinlich schlafen gehen.

Es gibt kein Wissen ohne direkter Erfahrung, ohne Sinnlichkeit. Derjenige der nur denkt weiss nichts, und erkennt nichts, denn das Erkennen fundiert auf die eigene Erfahrung. Derjenige der nicht denkt, kann gar nicht die aktuelle Situation erkennen, und kann sich auch keine Vergangenheit erinnern. Er ist sich nicht bewusst, dass er existiert, denn er kennt das “er” nur als “ich”.

Es gibt weiter kein notwendiger Zusammenhang zwischen einer diesen Lebensmomente und das Glück. Das Wissen als solche macht nicht unbedingt glücklich. Die Stimmung oder das Gefühl, die/das das Wissen hervorbringen kann hängt vom Objekt des Wissens und von der Wertung des Wissenden ab.

Das Wissen über die aktuelle Lage in Syrien kann zum Beispiel einen Pazifisten unglücklich machen, einen Waffenhändler aber glücklich.

Wenn wir zurück zum Fernsehbeispiel kommen, ist die Lage ganz anders, wenn der erste etwas isst, was der erste und der zweite gar nicht gerne haben.

Für einen bestimmten Objekt kann nur derWissende wissen, ob er glücklich ist oder nicht. Am Ende kann nur festgestellt werden, was schon vorher festgestellt wurde: wertvoll ist das Leben, das der Lebende wertvoll findet.

Im Fernsehbeispiel fehlt noch eine Person, der Leser, der sich die Situation vorstellt…

Denken, Meinungen und das Recht

Im selben Text von Schopenhauer (Arthur Schopenhauer, Eristische Dialektik. Die Kunst, Recht zu behalten, Frankfurt 2005, 58) heisst es weiter:

Denken können sehr Wenige, aber Meinungen wollen Alle haben: Was bleibt das anderes übrig als dass sie solche, statt sie sich selber zu machen, ganz fertig von Andern aufnehmen?

Und dann etwas weiter (59 f.):

Ueberhaupt wird man nun finden, dass wenn zwei gewöhnliche Köpfe mit einander streiten, meistens die gemeinsam von ihnen erwählte Waffe Autoritäten sind: damit schlagen sie aufeinander los. – Hat der bessere Kopf mit einem solchen zu thun, so ist das Räthlichste, dass er sich auch zu dieser Waffe bequeme, sie auslesend nach Maasgabe der Blössen seines Gegners. Denn gegen die Waffe der Gründe ist dieser ex hypothesi, ein gehörnter Siegfried, eingetaucht in die Flut der Unfähigkeit zu denken und zu urtheilen.

Ach ja, das kommt dem Juristen doch bekannt vor. Sind Rechtswissenschaft und Theologie nicht essentiell verwandte Wissenschaften (soweit sie denn Wissenschaften sind), lösen beide doch Divergenzen unter Rekurs auf Autorität. Aber Schopenhauer ist natürlich zu intelligent, um das nicht zu erkennen:

Vor Gericht wird eigentlich nur mit Autoritäten gestritten, die Autorität der Gesetze die fest steht: das Geschäft der Urteilskraft ist das Auffinden des Gesetzes d.h. der Autorität die im gegebenen Fall Anwendung findet. Die Dialektik hat aber Spielraum genug, indem, erforderlichen Falls, der Fall und ein Gesetz, die nicht eigentlich zu einander passen, gedreht werden, bis man sie für zu einander passend ansieht: auch umgekehrt.

Ist das nicht, was Epipur sagt?