Regeln und Adolf Eichmann

Regel als Regel befolgen III spricht am Ende das eigentliche Problem, wenn nicht des Rechts, so doch der Juristen an: Dass sie nämlich, wenn sie tatsächlich tun, was sie in ihren Methodenlehren behaupten (glauben und glauben machen wollen), namentlich Regeln befolgen, weil es Regeln sind, sie zu einer eigentlichen Armee von Eichmännern werden.

Das ist deshalb tragisch, weil das Recht üblicherweise als der Gegenbegriff zu blosser Macht und Willkür konzipiert wird, dieweil es doch nichts anderes ist als dessen verlängerter Arm oder Instrument.

Als erstes entstehen an den mittelalterlichen Universitäten juristische Fakultäten. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn das gegen den Willen der allgegenwärtigen Theologie und allmächtigen Kirche geschah. Nicht?

Schwierigkeiten mit Regeln

… zur hier thematisierten Problematik der Regel auch Montherlant (Carnet XX):

La principale difficulté, après avoir découvert et adopté une nouvelle règle de vie, est de découvrir quand il faut la transgresser.

Ist es nicht merkwürdig, wie beruhigt wir sind, wenn unsere Positionen, von Anderen (und noch dazu Berühmten) geteilt werden? Als ob das etwas an ihrer Richtigkeit zu ändern vermöchte.

Vergewaltigung, Pornographie & Abstraktion

Ganz richtig, Epipur. Der Begriff vergewaltigt das Leben, stellt Aussenperspektive dar und nicht Erlebtes, der Begriff (und mit ihm die Regel) ist immer Prokrustes-Bett. Ebenso wie der Begriff den Moment mit anderen Momenten in Verbindung setzt, und ihn damit essentiell entwertet, ihn seiner grossartigen und überwältigenden Majestät beraubt, ihn dadurch aber erst handhabbar und überhaupt sagbar macht (denn der Moment, wenn wir es denn wagen, uns ihm einmal hinzugeben, ist immer überwältigend und ausser Kontrolle und eben auch nicht sagbar), ebenso setzt die Regel Einzelfälle miteinander in Beziehung, die eigentlich keine Beziehung zueinander haben.

Wenn Antigone die Beerdigung ihres Bruders einfordert gegen die Regel und das Gebot, dann macht sie geltend, dass es um ihren Bruder geht, d.h. eben nicht um einen Menschen, einen Mann, einen Toten oder irgendjemandes Verwandten, sondern eben um ihren Bruder und dass damit die Einmaligkeit und Unabwägbarkeit bereits vollständig umschrieben sind, denn über dieses “Aber er ist mein Bruder!” hinaus gibt es eben kein weiteres Argument, das notwendig oder auch nur möglich wäre. Und genau dies – die Einmaligkeit des Momentes, des Hier und Jetzt, ist, was letztlich zählt. Hier ist Poesie zuhause und hier die Liebe.

Ich hatte hier bereits von Pornographie gesprochen. Das erscheint immer noch als die treffende Bezeichnung: Denn Pornographie ist nicht einfach Sexualität im Bild, sondern unterscheidet sich davon, indem die unbeteiligte Beobachtung von Sexualität hier eine Verdinglichung anstrebt bzw. erreicht. Das Objekt ist hier also nicht einfach nur Dargestelltes, sondern seiner zentralen Funktion nach Unterworfenes, Beherrschtes, Benutztes.

Es sei nicht bestritten, dass das auch erregend, anziehend und – ja, sagen wir ruhig auch – geil sein kann (beides, das Verdinglichen und das Verdinglicht-Werden je nach Laune oder Moment). Das ist auch kein Defizit und kein Mangel, ganz im Gegenteil. Wenn man aber besagter Anziehung etwas nachgeht, dann wird erkennbar, dass uns an der Verdinglichung die Pause vom Moment anzieht, vom Selbst, vom immerwährenden Reflektieren und Abwägen, die Pause vom Über-Ich. In der Abstraktion “haben” wir die Welt, “beherrschen” wir den Moment, riskieren wir uns nicht und – und das ist der Schlüssel – können uns aber gleichzeitig vormachen, wir kreierten Stabilität oder Gerechtigkeit. Jedem das Seine, nicht? Nur sind die Dinge eben nicht vergleichbar, wenn wir uns wirklich auf sie einlassen. Das wird auch sofort offensichtlich, wenn wir uns vorstellen, dass derjenige, mit dem wir gerade Sex haben, uns mit einem anderen vergleicht. Daran ist nicht störend, dass der Vergleich für uns vielleicht nicht schmeichelhaft sein könnte, sondern dass überhaupt die Möglichkeit des Vergleichs bestehen sollte, denn das belegt doch, dass wir gerade keine Hingabe erleben, sondern nur etwas, das ähnlich aussieht, dieweil wir blosses Objekt oder Instrument des Anderen sind. Und auch dies, ganz vorurteilsfrei, ist natürlich zulässig, nur ist es eben keine dauerhafte Position. Vielmehr kann es gerade nur als Ausnahmezustand erregend sein. Nur wer es nicht tun muss, kann “geben” und gehorcht nicht einfach. Nur dasjenige, worauf wir keinen Anspruch haben, kann Geschenk sein. Und nach diesem sehnen wir uns, nur nach diesem. Und wenn es einen Namen haben sollte, so hiesse es “Rosebud”, nicht?

Es ist die “objektive” Position, die Aussenperspektive, die dem Menschen nicht zusteht, die ihm zumindest nicht dauerhaft zugänglich ist, wenn er seine Menschlichkeit nicht verlieren will. Natürlich kokettieren wir damit, natürlich sind wir manchmal Gott (v.a. wenn wir alleine sind), natürlich ist es manchmal attraktiv, sich oder andere von Aussen und unbeteiligt zu sehen. Aber das kann keine dauerhafte Perspektive sein, weil wir in dieser unerträglichen Ferne und Kälte nicht existieren können. Uns bleibt am Schluss – so beängstigend es erscheinen mag – eben nur der Moment, die Hingabe an das Unkontrollierbare, an die Liebe und – ja, an die Verletzlichkeit.

Und nur zur Erinnerung, falls jemand glauben wollte, solche Überlegungen seien philosophiefremd, sei er oder sie daran erinnert, dass selbst Kant (wahrlich kein Feind der Abstraktion) in der “Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht” seine berühmte Bemerkung tut: “aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von Natur auferlegt.”

Aufstand als Existenzkern

Was könnte das für eine Gesellschaft sein, in der Energie darauf verwendet wird, Menschen zu verfolgen, die einen Kaugummi nicht in den Abfalleimer werfen sondern auf die Strasse, die ausspucken oder gar zu schnell fahren?

Offensichtlich eine, in der nicht nur alle genug zu essen haben, sondern auch Kinder nicht misshandelt oder vernachlässigt werden, Frauen treu sind und Freunde nicht weinen müssen, ohne dass man ihnen helfen kann. Eine Gesellschaft, in der alles wohlgeordnet, kontrolliert und sinnhaft erscheint, vom HErrgott selbst für den Menschen liebevoll vorbereitet, ein Ort, wo selbst der Gast seine Schuhe auszieht und vor der Tür abstellt, bevor er eintritt, eine, in der der Müll getrennt und weder geraucht noch zuviel getrunken wird.

Was für eine schöne (neue) Welt. Aber, aber, aber:

Als König Kreon Antigone verbietet, ihren Bruder Polyneikes zu beerdigen, weil der das Vaterland verraten habe, widersetzt sich Antigone mit dem ebenso simplen wie effektiven Satz: “Aber Polyneikes ist mein Bruder!”, einem Satz, der die Essenz des Menschen enthält. Und diese Essenz besteht nicht in der Verwandtschaft oder der Geschwisterliebe, sondern im Partikel “aber”. Denn wenn etwas den Menschen kennzeichnet und definiert, ja auszeichnet, so ist es die Revolte, die Revolte gegen das scheinbar Unabänderlich, die Revolte gegen die Regel, die Revolte letztlich gegen sein Schicksal (vgl. Rage, rage against the dying of the light). Der Anklang an Camus und seinen “L’Homme révolté” ist nicht abwegig.

Egal ob Poesie, Menschlichkeit oder Liebe: Regel und Regulierung sind ihre Feinde. Aber das wissen die Gartenzwerge ja durchaus. Nur ist ihnen eben eine ruhige und sichere Existenz (Leben möchte man das nicht wirklich nennen) lieber, auch wenn sie um den Preis der Kälte erworben werden muss.

Regel als Regel befolgen 2

Eine Regel wird zur Regel dadurch, dass man ihr folgt. Es kann also gar nicht sein, dass man einer Regel deshalb folgt (oder folgen sollte), weil sie besteht. Umgekehrt besteht sie nur deshalb, weil man ihr folgt. Tut man dies nicht mehr, hört sie auch auf zu existieren. Es bleibt nur Etwas bestehen, das vielleicht einst Regel war, Etwas, das den Anspruch erhebt, Regel zu sein, dessen Anspruch aber Anspruch bleibt und nicht mehr.

Die Forderung, einer Regel deshalb zu folgen, weil sie besteht, ist also logisch betrachtet unmöglich, sie ist nicht juristisches, sondern vielmehr politisches Programm: Denn wer fordert, dass man Regeln deshalb befolgen solle, weil sie bestehen, fordert nichts anderes als: Verhalte Dich so, wie es bisher üblich war, verändere nichts, lasse die Dinge beim Alten (aber nicht deshalb, weil sie gut waren, sondern eben schlicht, weil sie waren, denn die Regel soll ja nicht befolgt werden, weil sie gut ist, sondern weil sie ist). Die Forderung nach Regelbefolgung qua Regelexistenz verlangt zudem: Denk nicht nach (denn das wäre ja die Voraussetzung für eine echte Regelbefolgung: nämlich die bewusste, nach Reflexion erfolgte Entscheidung, sich so oder eben anders zu verhalten), sondern tue das, was andere getan haben. Und der Transfer der eigenen Autonomie auf andere ist hier – wie immer – radikal böse.