Über Risikoabwägung, Ehrverletzung und die Gewissheit alles besser zu wissen

Nehmen wir an, Sie sollen einen neuen Mitarbeiter anstellen. Sie sind Teil des leitenden und vollziehenden Organs einer Einrichtung für Lehre und Forschung. Bei der Auswahl des Mitarbeiters sind Sie nicht auf sich allein gestellt. Der entsprechende Fachbereich schlägt Ihnen eine geeignete Person vor. Sie entscheiden sich gegen den Vorschlag, schliesslich wissen Sie es ja besser.

Woher diese Gewissheit, es besser zu wissen? Eine Risikoabwägung. Nein, nein, nicht, dass Sie mich jetzt falsch verstehen. Die Person muss nicht grundsätzlich gefährlich sein. Aber eine Gefahr für den Ruf der Bildungseinrichtung könnte sie schon darstellen. Wie das mit diesen hinterhältigen Gefahren so ist.

Was für ein Risiko denn gemeint sei? Nun ja, nehmen wir beispielsweise den Fall Dominique Strauss-Kahn. Der könnte, obwohl fachlich kompetent, bei der Anstellung ein Risiko für den Ruf einer Universität darstellen. Sie kennen den Fall Dominique Strauss-Kahn nicht? Das ist doch derjenige mit der Vorliebe für unwanted consensual sex mit Hotelangestellten. Geht es bei Ihrem Bewerber etwa um Vergewaltigung? Nein, nein, es war nur ein Beispiel, um zu zeigen, dass es eben nicht nur auf die fachliche Kompetenz ankommt. Also eine andere Straftat? Nein, nein. Es geht lediglich um den Ruf der Universität. Ach so, der Ruf der Universität, nicht der des Bewerbers. Jetzt hab ich es verstanden. Den Ruf der Einrichtung schützen, indem man den Ruf des Bewerbers schädigt, klingt einleuchtend.

Käme der Bewerber jedoch auf die Idee, sich gegen die Ehrverletzung zur Wehr zu setzen, so müsste er wohl selbst eine begehen. Der arme Herr Strauss-Kahn möchte schliesslich auch nicht für alles herhalten.

Es ist eine schwierige Geschichte mit dieser Ehrverletzung; aber gut, dass Sie es besser wissen.

Geheimnisvolles Japan

Soeben auf Trouw.nl die Meldung gefunden, dass die japanische Vagina-Künstlerin Nashiko von der Polizei verhaftet wurde, weil sie eine Datei mit den Daten ihrer eigenen Vagina, mit der sich in 3D-Druckern dreidimensionale Abbilder derselben aus Kunststoff herstellen lassen, auf ihre Website gestellt hatte. Damit kann man etwa dekorative Smartphone-Hüllen herstellen.

nashikoDiese unerfreuliche Nachricht eröffnet die Frage, ob dies auch nach schweizerischem Recht zu befürchten wäre. Nach Auffassung des Bundesgerichts setzt Pornographie indes voraus, dass Darstellungen objektiv darauf ausgerichtet sind, den Betrachter sexuell aufzureizen und dass in der Darstellung die Sexualität dergestalt aus ihren menschlichen und emotionalen Bezügen herausgetrennt wird, dass die jeweilige Person als blosses Sexualobjekt erscheint (BGE 131 IV 64, E. 10.1.1). Das Bundesgericht pflegt dies u.a. anhand der Bildgestaltung, der möglichen Einwirkung auf Darsteller und deren Gesichtsausdrücken zu beurteilen. Problematisch sind insbesonderer laszive oder leicht unterwürfige Gesichtsausdrücke.  Ein ernst dreinblickendes oder lachendes Kind mit entblösster Scheide, das sich seitlich am Liegestuhl festhält, darf man photographieren (BGE 133 IV 31, E. 6.2).

All dies deutet darauf hin, dass die Darstellung von Geschlechtsorganen ohne besonderen Kontext – insbesondere ohne Hinweise auf interpersonale Interaktion – nach schweizerischem Recht zulässig sein muss, da die Darstellung des Geschlechtsorgans ohne zugehörige Person nach objektiven Kriterien nicht als sexuell aufreizend zu qualifizieren ist. Dass in der Rechtsprechung auch darauf abgestellt wird, ob Geschlechtsorgane aufdringlich im Zentrum einer Darstellung stehen (manche tun das ja …) ändert daran nichts, ist doch auch hier die Existenz eines Kontexts vorausgesetzt, der bei einer Telephonhülle mit Vagina-Relief (oder auch einem Boot in Vagina-Form, wie es die Künstlerin ebenfalls gestaltet hatte) fehlt.

Bemerkenswert ist auch, dass in Kawasaki das Frühjahrsfest des stählernen Phallus gefeiert wird – offenbar bislang ohne Verhaftungen. Eine stossende Ungleichkeit. Free Nashiko!

Die wahre Quelle des Rechts bzw. dessen Findung

Neulich wurde der neue Sitz des Bundesstrafgerichts zu Bellinzona eröffnet. Ein wirklich sehr eindrückliches und gelungenes Gebäude mit Verhandlungssälen, wo das Licht der Wahrheit Zeugen durch ein Oberlicht erhellen und gleichsam im Innern einer symbolischen Gerichtslinde getagt werden kann – so zumindest die offizielle Erklärung der Ornamente in der Kuppel des Gerichtssaals, die man ansonsten mit ihrer orientalisch anmutenden Formensprache auch als Hammam auf Speed deuten könnte.

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Einige Stockwerke höher findet man dann aber das, was den eigentlichen Treibstoff für die Rechtsfindung liefern dürfte: In der Cafeteria mit hinreissend verrücktem historischem Wandgemälde steht …. eine beeindruckende Kaffeemaschine in rot (der Farbe des Bundesstrafgerichts also) mit BStGer-Logo. Ob in Lausanne bald eine goldene Kaffeemaschine steht?

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Unfehlbarkeit und Justizirrtum

René Floriot, Zu Unrecht verurteilt (orig.: Les erreurs judiciaires), Hamburg 1969, 8 f.

Kommen solche Justizirrtümer häufig vor?

Es wäre sehr gewagt, eine auch nur ungefähre Statistik aufstellen zu wollen. Halten wir dennoch folgende Tatsache fest: Es gibt in Frankreich zwei Instanzen, die Strafkammer (Tribunal) und den Gerichtshof (Cour), die nacheinander denselben Fall verhandeln. Der Gerichtshof hebt in 25 Prozent aller Fälle das Urteil, das in erster Instanz gefällt wurde, wieder auf. Die Gerichtsräte des Hofes, die unter den Beamten der Kammer ausgewählt werden, wissen sehr wohl, dass ihnen ihre Beförderung nicht gleichzeitig Unfehlbarkeit eingetragen hat. Gewiss haben sie das letzte Wort, aber damit ist keineswegs gesagt, dass sie immer recht hätten. Mit anderen Worten, wenn ein gerichtliches Urteil für ungültig erklärt wird, so ist eine der beiden Entscheidungen mit Sicherheit falsch… und zwar nicht unbedingt die der ersten Instanz.

Hier bietet sich eine Schlussfolgerung an: die Justiz fäll in einem von vier Fällen entweder ein vorläufiges Fehlurteil, was das geringere Übel ist, oder, was weit schwerer wiegt, ein endgültiges Fehlurteil

Dem muss man wohl widersprechen. Denn genau das ist es, was die Richter erlangen, wenn sie auf die höchste Instanz aufsteigen: Unfehlbarkeit. Ihnen geht es ganz wie dem Papst: Sie werden nicht Richter, weil sie unfehlbar sind, aber sie werden unfehlbar, weil sie oberste Richter werden, weil damit gegen ihre Entscheide kein Kraut gewachsen ist bzw. kein Rechtsmittel mehr besteht.

Will man mit Floriot unterscheiden zwischen “letztes Wort haben” und “Recht haben”, dann muss sich das “Recht haben” auf anderes stützen können als eben auf “das letzte Wort haben”. Supponiert wird damit die Existenz einer metajuristischen Entscheidbasis. “Endgültige” Fehlurteile kann es mithin nur geben, wenn es jenseits der letzten juristischen (oder richterlichen) eine weitere Instanz gibt, die eine Entscheidung über das Richtig und Falsch erlaubt.

Gute Auswirkungen auch böser Strafen

Berichtet Charles Desmaze, in seinen Curiosités des Anciennes Justice d’après leurs registres, Trésor Judiciaire de la France, Paris 1867, 317 f.:

En 1290, une femme de Paris procura à un juif nommé Jonathas une hostie consacrée. Ce dernier, après l’avoir percée à coups de canif, et en avoir vu couler le sang, après l’avoir jetée au feu et l’avoir vue voltiger sur les flammes, la mit dans la chaudière d’eau bouillante, qu’elle rougit sans en être altérée. Une indiscrétion du fils de Jonathas et la curiosité d’une voisine firent connaître cette tentative sacrilège; la voisine recueillit l’hostie et la porta au curé de Saint-Jean en Grève; Jonathas fut arrêté par l’évêque de Paris, avoua son crime, fut brûlé vif, es sa maison rasée de fond en cime.

Und weil es ja schade gewesen wäre, das schöne Grundstück unnütz liegen zu lassen, hat man es einem guten Zweck zugeführt:

En 1294, une chapelle dite la Maison des Miracles, et bâtie par Rainier Flamming, s’éleva sur le terrain de Jonathas; Guy de Joinville y fonda un monastère, agrandi en 1299 par Philippe le Bel; Clémence de Hongrie enrichit ce couvent où Dieu fut bouilli, et en 1685 on lisait encore cette inscription:

Ci-dessous le juif fit bouillir la sainte hostie.

Wie schön, dass Strafverfolgung immer wieder das Gute fördert.

Voile, médias, droit et abstraction

En guise d’introduction, voici quelques approximations: 90% de la population ne lit pas les journaux. Sur les 10% restants, 90% ne lisent que les titres, 5% lisent les titres et les premières lignes et 5% lisent l’article en entier.

Or voici quelques titres d’articles parus ces dernières heures dans la presse suisse et concernant une affaire de voile à l’école:

Blick: Kopftuch an der Schule ist erlaubt

20Minuten: Bundesgericht erlaubt Kopftücher an der Schule

Tages Anzeiger: Ein generelles Kopftuchverbot wird es sehr schwer haben vor Bundesgericht

Tribune de Genève: Le TF autorise deux écolières thurgoviennes à porter le voile

La Liberté: La commune de Bürglen ne peut plus interdire le port du voile à l’école

NZZ: Kopftuchverbot an Thurgauer Schule ist unzulässig

Ces différents titres montrent que les médias n’ont présenté les délibérations publiques dans l’affaire 2C_794/2012 de la même façon, certains allant même jusqu’à énoncer des règles générales et abstraites comme: le voile à l’école est autorisé.

Toutefois, dégager une telle règle revient à passer sous silence le fait que le Tribunal fédéral ne s’est prononcé que pour ce cas précis (ces deux jeunes filles, dans ce village de Bürglen, maintenant) et qu’il l’a fait parce qu’il a estimé que le règlement de l’école ne constituait pas une base légale suffisante pour permettre la restriction de la liberté de croyance de ces jeunes filles et que la restriction de cette même liberté dans ce cas précis était disproportionnée.

L’abstraction qui consiste à dégager une règle générale et abstraite d’un jugement portant sur un état de fait particulier n’est autre qu’une simplification mystificatrice. Cette simplification ignore de très nombreux éléments qui ont mené les juges à décider dans ce sens. A partir d’un jugement, il est possible de construire un grand nombre de pseudo-règles, qui trahissent toutes le jugement duquel elles sont issues. Toute règle qui en est issue n’est pas normative mais descriptive. En d’autres termes, une phrase comme “le voile est autorisé à l’école” n’est qu’une façon de résumer le jugement et ne constitue nullement une règle. Un jugement n’est contraignant que dans le cas d’espèce.

Si un nouveau cas de voile à l’école se présente, il faudra voir dans ce nouveau cas si l’interdiction se fonde sur une base légale suffisante et si celle-ci est proportionnée. Le simple fait d’énoncer l’abstraction issue du jugement précédent se résume à l’expression du souhait de voir ce nouveau cas tranché dans le même sens. Cette abstraction ne constitue pas même un argument, puisqu’il faudrait pour cela encore montrer en quoi les cas sont semblables.