Kindheit

Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.

Heimito von Doderer, Ein Mord den jeder begeht, 2008 [1938], 5.

Potenzialität und Wirklichkeit

Ich wählte ihre Handynummer. “Jetti, wo bist Du?”
“In Prag bin ich, im Hotel. Wo bist du?”
“Ich bin in München, auch im Hotel. Ich würde gern bei dir sein.”
“Ich würde auch gern bei dir sein.”
“Es war eine grosse Liebe.”
“Es war eine grosse Liebe.
Die Rettung fuhr draussen vorbei. Jetti und ich, keine hundert Meter voneinander entfernt, hörten das Martinshorn auf der Strasse und im Hörer.
“Wenn wir beide zu Hause wären”, sagte ich, “dann würde ich zu dir kommen.”
“Das wäre schön.”, sagte Jetti.

Michael Köhlmeier, Die schöne Jetti,
Erzählung aus:  Nachts um eins am Telefon, Wien 2005

Versprechen

“Du kennst Geschichten, die trösten. Erzähl mir eine Fahrradgeschichte, die mich trösten kann.”
“Was bekomme ich dafür?”
“Ich schick dir Gift, wenn du welches brauchst.”

Michael Köhlmeier, Die Hälfte der Gedanken,
Erzählung aus:  Nachts um eins am Telefon, Wien 2005

Treue

Um vier stand ich auf, tippte die Vorwahlnummer von Marburg an der Lahn ins Telefon und dann fünf beliebige Ziffern.
Eine Frauenstimme meldete sich, ausgeschlafen wie der helle Mittag.
Ich sagte: “Ihre Nummer ist mir zufällig in die Finger gerutscht. Ich möchte mit jemandem sprechen, der in Marburg lebt, weil ich selbst vor vielen Jahren dort gelebt habe.”
Sie räusperte sich wie eine Therapeutin. “Sind Sie schlaflos?”
“Ja”, sagte ich.
“Wundern Sie sich nicht, dass ich so schnell abgehoben hab?+
“Doch.”
“Ich bin auch schlaflos. Ich warte auf meinen Mann.”
“Betrügt er Sie?”
“Gestern”, sagte sie, “war mein Sohn bei mir. Er ist seit einem Jahr verheiratet und betrügt bereits seine Frau. Er setzte sich zu mir in die Küche, bei halbem Licht kann er plötzlich aussehen wie ein Fremder. Er fragte mich, ob sein Vater mich betrügt. Ich sagte: Nein. Da hat er gegrinst. Als wären die beiden schon oft genug gemeinsam auf Tour gewesen.”

Michael Köhlmeier, Die Republik der Schlaflosen,
Erzählung aus: Nachts um eins am Telefon, Wien 2005

Zeit und Weh

“Die Zeit hat uns gar nichts anzugehen”, konterte er, und auch er spielte Bitterkeit. “Es bringt nichts, über sie nachzudenken. Sie bewegt sich deswegen nicht langsamer. Wenn Beweglichkeit überhaupt eine ihrer Eigenschaften ist. Alles, was zurückliegt, geschieht jetzt. Im Augenblick. Licht von einem fernen Stern. Was mir vor fünfunddreissig Jahren sehr wehgetan hat, warum sollte mir das heute nicht mehr wehtun?”

Michael Köhlmeier, Von alten Fotografien,
Erzählung aus:  Roman von Montag bis Freitag,  38 Stories, Wien 2004.