by Titiuuh | Apr 16, 2017
Ein Vertrag ist die Antizipation eines Scheiterns. Ich vertraue meinem Partner nicht für alle Zeit. Und: Ich vertraue mir selbst nicht für alle Zeit.
[…]
Der, der ich jetzt bin, erhebt sich über den, der ich vielleicht eines Tages sein werde, und erinnert ihn daran, was er einst für richtig erachtet hat. Wobei es ja durchaus sein könnte, dass der, der ich sein werde, klüger ist als der, der ich bin. So gesehen ist ein Vertrag ein Ding wider die Vernunft.
Michael Köhlmeier, Über Verträge,
Erzählung aus: Roman von Montag bis Freitag, 38 Stories, Wien 2004.
by Titiuuh | Apr 15, 2017
Dort, wo es zum Flugplatz geht, lebte ein Mann, der hiess Walkner, seinen Vornamen weiss ich nicht. Er war Maurer, und er hatte für niemanden zu sorgen, er hatte keine Frau und keine Kinder, nur einen Cousin, der war ebenfalls Maurer. Walkner war Hilfsarbeiter, und als seine Eltern starben, erbte er einen schmalen Streifen Acker, der bald darauf zu Bauland erklärt wurde. Damit war der Wert des Grundstücks gestiegen, und weil es obendrein an einer Strassenkreuzung lag, die in den aufstrebenden Sechzigerjahren an Bedeutung gewann, traten immer wieder starke, finanzkräftige Männer an Walkner heran, sie wollten ihm sein Grundstück abkaufen und Wohnblocks darauf bauen. Sogar in der Gemeinde gab es Fraktionen, die ihn drängten, man nannte ihn einen Egoisten, weil er Boden besitze, den er nicht nutze. Tatsächlich nutze Walkner seinen Acker nicht. Er baute weder etwas an, noch pflegte er das Gras, das dort wild wuchs. Er setzte sich manchmal sonntags unter einen Baum und rauchte seine Zigaretten und trank seinen Most und grüsste den, der an seinem Grundstück vorüberging, auch wenn er selbst nicht gegrüsst wurde.
Michael Köhlmeier, Walkner,
Erzählung aus: Roman von Montag bis Freitag, 38 Stories, Wien 2004.
Puritaner ärgern sich. Nutzlosigkeit ist nicht Sinnlosigkeit. Dass etwas keinen Zweck hat, kein Ziel, auf das es bezogen wird, entleert es nicht seiner Sinnhaftigkeit. Vielleicht hat gar nur Sinn, was keinen Zweck hat. Man kann das natürlich abwerten, indem man es Romantik nennt. Sicher aber ist, dass es der protestantischen Position widerstrebt.
by Titiuuh | Apr 15, 2017
“Deine Frau und du”, sagte ich.
“Was meinst du?”, fragte er.
“Wie lange seid ihr verheiratet?”
“Dreiundzwanzig Jahre, schätze ich.”
“Schlaft ihr noch miteinander?”
“Klar”, sagte er. Und dann noch im Schweizer Dialekt, als ob er die Befugnis hatte, auch im Namen seiner Frau zu antworten: “Sicher, sicher.”
“Und küssen?”
“Hast du einen Vogel”, rief er.
Michael Köhlmeier, Der Ungar,
Erzählung aus: Roman von Montag bis Freitag, 38 Stories, Wien 2004.
by Titiuuh | Apr 4, 2017
Und abgesehen davon braucht jede Begegnung eine erste Missachtung der Linie, die der Anstand um jeden Menschen zieht. Wer nur küsst, nachdem er dazu aufgefordert wurde, und wer nur geküsst wird, nachdem er sein Einverständnis gegeben hat, der wird niemals küssen und niemals geküsst werden. Wer etwas von der Welt erfahren will, einen Zugang zu den verborgenen Geheimnissen gewinnen, der muss durch die Türe gehen unaufgefordert, er kann nicht warten, bis er die Erlaubnis erhält. Keine Geschichte, schon gar keine Liebesgeschichte, kommt ohne Übertretung aus. Keine Eroberung ist erfolgreich ohne die Anmassung. Falls Philip also diese Frau ansprechen wollte, was nicht sicher ist, dann musste er etwas tun, das zumindest zweifelhaft war.
Lukas Bärfuss, Hagard, Wallstein 2017, 26
by Titiuuh | Apr 3, 2017
Ich habe alles, ausser ein Zuhause, eine Zukunft und Eltern, die mich lieben. Sollte ich glücklich sein? Müsste ich es?
Letzte Kommentare