Marcel Proust & die Lüge

by | Dec 5, 2020 | Das Buch, Die Bemerkung, Unsere Helden | 0 comments

Die folgende Passage aus der Recherche du temps perdu findet sich in einem kleinen, ganz wunderbaren Buch über Marcel Proust:

Proust war sich dieser Tragik, die im lebenslangen Zwang zur Lüge bestand, vollkommen bewußt. »Wenn ich nicht mehr an die Unschuld Albertines glaubte«, läßt er seinen zur Vernunft gekommenen Marcel grübeln, »so deshalb, weil ich nicht mehr das Bedürfnis,
das leidenschaftliche Verlangen danach in mir trug. Glaube entsteht aus Wünschen, und wenn wir es im allgemeinen nicht wahrnehmen, so kommt das daher, daß die meisten der glaubensstiftenden Wünsche – im Unterschied zu jenem, der mich hatte annehmen lassen, Albertine sei
 unschuldig – erst mit uns selbst enden. […] Die Lüge ist für die Menschheit ganz unabdingbar. Sie spielt bei ihr vielleicht die gleiche Rolle wie das Trachten nach Lust und wird im übrigen durch dieses Trachten bestimmt. Man lügt, um sich seine Lust zu sichern oder um seine Ehre zu schützen, falls das Bekanntwerden der Lust der Ehre entgegensteht. Man lügt sein ganzes Leben lang, auch und vor allem, vielleicht sogar einzig, den Menschen gegenüber, die einen lieben.«

Michael Maar, Proust Pharao, Berlin: Berenberg, 2. Auflage, 2009, 74 f.

Tatsächlich, «man lügt sein ganzes Leben lang, auch und vor allem, vielleicht sogar einzig, den Menschen gegenüber, die einen lieben», es braucht nicht nur Weisheit, sondern auch viel Mut, sich dies einzugestehen, da es doch – so unschuldig es klingt – die Grundbedingung unserer Existenz vollständig umreisst.

Die Lektüre dieses kleinen Büchleins über Proust hat mich – ganz gleich den berühmtesten Momenten der Recherche – unmittelbar und sofort zurückkatapultiert in die Studienzeit, als mein Berner Freund und ich parallel und auf Distanz Proust lasen und Blindschach spielten. Das Wetter war, wie jetzt auch, kalt aber nicht unangenehm, der erste Schnee hatte die Luft gereinigt und es gab nichts Bedeutenderes oder Sinnvolleres als Literatur und Lektüre. Und das Leben wartete etwas zu ungeduldig.

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