Es sei sinnlos, Dinge anzustreben, die nicht erreichbar seien, wurde mir heute gesagt. Wenn es keine Wahrheit gebe oder keine Gerechtigkeit, so lohne es sich nicht, danach zu streben. Sei ein Ziel unerreichbar, so sei es geradezu widersinnig, es zu verfolgen. Ausgenommen wurde nur die Liebe, aber auch dies nur der Hoffnung wegen, sie vielleicht einmal zu finden.
Was nur soll man darauf antworten? Wie traurig, wie fürchterlich traurig! Aber eben auch grundfalsch, denn gerade das Gegenteil ist richtig: Nur, was nicht erreichbar ist, taugt überhaupt als Ziel des Begehrens. Denn das Begehren wird ja aufgehoben, das Ziel sinnlos, sobald das Begehrte erreicht wird. Es wird als Begehrenswertes im eigentlichen Sinne vernichtet.
Deshalb ist erstrebenswert überhaupt nur dasjenige, was jenseits liegt bloss technischer Schwierigkeiten, und deshalb kann dauerhaftes Ziel nur sein, was sich eben nicht vollständig erreichen lässt (Jacques Lacan [1901-1981] und sein begehrendes Subjekt lassen grüssen).
Denn die Grundanlage des Menschen ist durch und durch paradox. Nur wenn er sich in stetiger Revolte findet gegen sein Schicksal, sein Los, kann er sein Menschsein überhaupt erhalten, seine Fähigkeit zum Träumen, zur Poesie, zur Kreativität und letztlich zur Liebe. Nur im Paradox verwirklicht er sich. Alles andere sind bloss Rechenaufgaben, die sich mit mehr oder weniger Aufwand, immer aber mit purer Mechanik lösen lassen.
Das Leben als Problem, als Rechenaufgabe, die es zu lösen gilt? Nur Krämerseelen können auf eine so prosaische Idee verfallen. Und auch nur sie könnten sich wohl in einer solchen Existenz heimisch fühlen. Aber auch sie wohl nur um einen fürchterlichen Preis. Und selbst sie wohl nicht auf Dauer.
Fürchterlich inkonsequent sind die Krämerseelen, wenn sie jedes Begehren als sinnlos betrachten mit Ausnahme der Liebe. Dabei ist doch gerade die Liebe das Überbegehren, welches all die anderen überhaupt erst auslöst.
Aber nein, vielleicht sind sie nicht einmal inkonsequent sondern ganz einfach unfähig zu den Maschinen zu werden, die sie gerne wären. Solch eine Existenz kann wirklich nicht von Dauer sein.
F. Scott Fitzgerald bringt das doch so schön auf den Punkt: “And in the end, we were all just humans… Drunk on the idea that love, only love could heal our brokenness.”
Nicht, dass sie inkonsequent sind, würde ich ihnen vorwerfen, denn das macht ja den Menschen aus, also nicht, dass sie schwach sind, sondern dass sie davon träumen, fehlerfrei und stark zu sein, denn dies lässt sie zu Bewunderern des Unmenschlichen werden, dem sie unter den Titeln von Recht und Ordnung, Sicherheit und Stabilität, ja gar Gerechtigkeit und Fürsorge nur zu gerne die Steigbügel halten, weil es allezeit nur sich und seine Ziele kennt und deshalb nie in Gefahr kommt, sich selbst zu verlieren. Gerade diese allgegenwärtige Möglichkeit aber definiert den Menschen.
Ich muss wohl zugeben, dass mein erster Impuls mich über Inkonsequenz zu empören der falsche Ansatz war, schafft sie doch eigentlich seit Jahrtausenden grosse Kunst und ist, wie gerne wir das auch abstreiten, gerade die Eigenschaft, die uns Menschen ausmacht.
Da war ich ja selbst ganz Krämerseele, als ich diesen Vorwurf machte!
Indessen frage ich mich aber, ob wir uns den Wunsch und das Streben nach dem Unmenschlichen vorwerfen können. Müssen wir uns dann auch die Liebe vorwerfen? Gehört sie nicht auch zu jenen grossen Idealen, die wir sehnsüchtig bewundern? Oder hat es mit ihr eine ganz andere Bewandtnis, weil wir in ihr die Möglichkeit haben uns selbst zu verlieren?
Ah, aber das bringt mich ja eigentlich wieder zurück zu Ihrem Text und ich kann ihn nochmals, dieses Mal vielleicht etwas eindeutiger, unterschreiben.