Die Zukunft und die Liebe

by | Apr 18, 2014 | Das Buch, Die Bemerkung | 1 comment

FOTOGRAFIE VOM 11. SEPTEMBER

Sie sprangen aus brennenden Stockwerken hinab –
einer, zwei, noch ein paar
höher, tiefer.

Die Fotografie hielt sie an im Leben,
und nun bewahrt sie sie auf
über der Erde gen Erde.

Jeder ist noch ganz
mit eigenem Gesicht
und gut verstecktem Blut.

Es ist genügend Zeit,
dass die Haare wehen
und aus den Taschen Schlüssel,
kleine Münzen fallen.

Sie sind immer noch im Bereich der Luft,
im Umkreis jener Stellen,
die sich soeben geöffnet haben.

Nur zwei Dinge kann ich für sie tun –
diesen Flug beschreiben
und den letzten Satz nicht hinzufügen.

aus: Wislawa Szymborska, Der Augenblick, Gedichte, Frankfurt 2005

Die Zukunft nicht zu sehen, ja nicht einmal an sie zu denken, ist die eigentliche Ausdrucksform von Zärtlichkeit und Liebe. Denn Liebe kennt keine Zukunft, Liebe ist immerwährende Gegenwart, gleichzeitig allgegenwärtig und unfassbar. Dies ist ihr Absolutes, Gottgleiches, das jede Möglichkeit der Erklärung ebenso ausschliesst wie die Notwendigkeit einer Begründung. Zukunft dagegen ist eine Konstruktion unseres Verstandes, die primär dazu dient, den unserer Kontrolle entzogenen (und daher beängstigenden) Augenblick zu domestizieren, vergleichbar zu machen, einzuordnen und im eigentlichen Sinne zu “verkleinern” (Analoges, wenn auch in wesentlichen Teilen durchaus anderes, gilt natürlich auch für die Vergangenheit, doch davon ein ander Mal.) Durch die Konstruktion der Zukunft wird be-greif-bar, was sich eigentlich jedem Mass und jedem Verständnis verweigert, weil es in seiner Vollständigkeit und Dynamik jede neutrale oder objektive Position ausschliesst. Die Extrapolation vom Gegenwärtigen auf ein Zukünftiges, vom jetzt bestehenden (aber gleichzeitig immer vergehenden und sich auch deshalb entziehenden) Augenblick auf mögliche zukünftige Folgen oder Entwicklungen erlaubt die Projektion unserer Ängste, unseres Ausgeliefertseins auf etwas Konkretes, Kommunizierbares und damit “Objektives”, was sie unmerklich – und quasi nebenher – in etwas Verständliches und Legitimes verwandelt. Die Angst gehört damit nicht mehr zu uns, sondern zum Aussen, zur Welt, zu demjenigen, dem wir ausgeliefert sind. Sie ist nicht etwas, das wir selbst produzieren, sondern etwas, das uns bedroht und bedrückt.

Tatsächlich aber leben wir immer und ausschliesslich in einem einzigen Augenblick, in diesem ephemeren, filigranen, höchst zerbrechlichen und ständig vergehenden Moment, der uns – ganz im Gegensatz zu seiner fragilen Zärtlichkeit – gleichzeitig so vollständig als überhaupt nur vorstellbar umfasst und uns zudem – unserer Kontrolle gänzlich entzogen – auch vollkommen beherrscht, also durch und durch gewalttätig ist, ja geradezu den Inbegriff dessen darstellt, was wir als Gewalt definieren, denn die Herrschaft des Augenblicks über uns ist so vollkommen und einseitig, dass er uns im eigentlichen Sinne “lebt” (und nicht umgekehrt, wie wir gerne glauben möchten). Zumindest die deutsche Sprache zeigt dies auch an, indem Momente nicht ge-, sondern erlebt werden. Die Position eines blossen Objektes aber, einer Puppe oder eines Spielzeugs des Jetzt können wir paradoxerweise nur verlassen, gerade nicht indem wir dem Augenblick entfliehen in eine inexistente Vergangenheit oder eine ungewisse Zukunft, in Träum, Ängste oder Phantasmagorien, sondern gerade zum Gegenteil indem wir uns dem Moment hingeben, in ihm so vollständig als möglich aufgehen. Damit nämlich – so scheint es – vereinigen wir uns mit ihm, werden eins mit ihm, Herr und Knecht verschmelzen, die Unterscheidung hört auf, Sinn zu ergeben. Dies ist der Weg zur Herrschaft über sich – und damit auch über die Welt. Und zudem einer, der uns allen offen steht. Dostojewski (1821-1881) sagt das in den Brüdern Karamasow einmal sehr schön: alle sind wir im Paradiese, wir wollen es nur nicht wahrhaben; wenn wir es aber wahrhaben wollten, so würden wir morgen im Paradiese sein“. Zu dumm nur, dass ein wenig Mut notwendig ist. Oder Ehrlichkeit. Oder Verzweiflung. Oder Neugier. Oder Hingabe. Oder eben Liebe.

1 Comment

  1. Lala

    Ganz genauso ist es.

    Reply

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