Wünsche, erfüllt und unerfüllt

by | Jul 13, 2014 | Das Buch, Die Bemerkung | 0 comments

Schwieriger ist es für uns, ihr anmutigen Damen, zu erkennen, was uns gut tut. Denn während viele, die der Meinung waren, wenn sie reich wären, würden sie sorgenlos und ruhig leben, und die nicht allein Gott inbrünstig um Erreichung dieses Zieles baten, sondern auch keine Mühen und Gefahren fürchteten, um zu ihm zu gelangen, fanden, wenn ihre Wünsche gewährt würden, wegen ihrer Erbschaft Mörder in denen, die ihr Leben beschützten und sie liebten, bevor sie reich wurden. Andere bahnten sich aus dem niederen Stande, in dem sie geboren wurden, durch tausend gefährliche Schlachten und durch das Blut ihrer Brüder und Freunde den Weg zu der Höhe des Thrones, in der sie das höchste Glück zu finden wähnten, und mussten, ungerechnet unendliche Furcht und Sorgen, von denen sie sich umgeben sahen, in ihrem eigenen Tode erkennen, dass man an königlichen Tafeln aus goldenen Bechern Gift trinkt. Nicht gering ist ferner die Zahl derjenigen, die körperliche Kraft und Schönheit, wie andere Schmuck und Tand, mit dem heftigsten Verlangen für sich begehrten und die Verkehrtheit ihres Wunsches nicht eher erkannten, als bis jene Dingen ihnen den Tod oder schwere Betrübnis gebracht hatten.

Giovanni Boccaccio: Der Decamerone, übersetzt von Heinrich Conrad, 2. Tag 7. Geschichte, Berlin: Propyläen o.J., Bd. 2, 175 f.

Je nach der Perspektive, aus der wir sie betrachten, sehen die Dinge nicht nur anders aus (das scheint geradezu eine Binsenweisheit), vielmehr sind sie tatsächlich etwas anderes. Nur unsere, vom 18. Jahrhundert herstammende, stets auf Objektivität bedachte Grundannahme, unser nimmer erlahmendes Begehren nach einer von uns unabhängigen Wirklichkeit, nach einer einheitlichen, objektiv zu erfassenden Realität, fügt diese divergierenden, differierenden, sich widersprechenden und höchst unterschiedlichen Perspektiven zur Identität “der” Sache zusammen, verbindet also und verknüpft Unterschiedlichstes zu Einem. Und dass wir zumindest die Bedeutung der verschiedenen Perspektiven anerkennen können, liegt wohl primär in der – seit der Renaissance sich entwickelnden – Optik begründet.

Dass die Dinge aber andere sind, je nach der Perspektive, aus der wir sie betrachten (alle übrigen Perspektiven sind ja letztlich Konstruktion und damit Konvention), umschreibt das eigentliche Problem noch nicht einmal annähernd, denn hier stehen wesentlich nur verschiedene Aussenperspektiven gegeneinander. Hier liesse sich wohl ein Konsens noch finden, hier lässt sich verhandeln. Die tatsächliche Katastrophe unserer Erkenntnis liegt im Wechsel von Aussen- und Innenperspektive begründet, also darin, dass die Dinge nicht nur andere werden, je nach der Perspektive ihrer Betrachtung, sondern sie überhaupt aufhören, Dinge zu sein, sobald wir sie nicht mehr nur betrachten, sondern sie empfinden bzw. sie leben. In der Innenperspektive nämlich werden die Dinge Teil unserer Selbst, und wir können zu ihnen (genau so wenig wie zu uns selbst) auch nur minimal Distanz aufbauen, um sie von Aussen zu betrachten, ohne dass wir damit notwendig und unumgänglich unser Eigenes, ja unser Ureigenstes verlieren. Denn natürlich können wir uns von Aussen betrachten. Natürlich können wir von uns selbst reden, denken oder schreiben, wie von etwas ganz Fernem, von uns Unterschiedenem und Unterscheidendem. Natürlich können wir uns als “Welt” betrachten. Nur sind wir eben dieses Ferne, von uns zu Unterscheidende nicht. Zu uns “als Welt” haben wir dieselbe unüberbrückbare, von Sehnsucht geprägte Distanz wie zu allen anderen Aspekten der Welt.

Und so, wie sie unseren Schmerz nicht spürt, so spüren wir den ihren nicht. Soweit wir ihn aber spüren, sind wir mit der Welt so eng verbunden, sind wir so sehr Teil von ihr geworden, dass unsere Existenz als Individuum unerträglich wird. Auch ohne diese Auflösung des Individuums allerdings begründet die Differenz von Aussen- und Innenperspektive erhebliche Risiken, und sei es nur – was Boccaccio ja letztlich anspricht – dass wir uns gut überlegen sollten, wonach wir streben und was wir uns wünschen, denn möglicherweise bekommen wir es ja: Be careful what you wish for, you might get it. Dann aber ist es notwendig zu etwas anderem mutiert.

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