by Filifjonka | Mar 17, 2016
Ein anderer Freund starb plötzlich, entsetzlich, am Gepäckband eines ausländischen Flughafens. Seine Frau war einen Kofferkuli holen gegangen; als sie zurückkam, stand eine Menschentraube um etwas herum. Vielleicht war ein Koffer aufgeplatzt. Aber nein, ihr Mann war aufgeplatzt und bereits tot. Ein, zwei Jahre später, als meine Frau starb, schrieb sie mir: »Der Punkt ist – die Natur ist da sehr genau. Es tut exakt so weh, wie es die Sache verdient, darum genießt man den Schmerz gewissermaßen, glaube ich. Wenn es einem nichts ausmachte, würde es einem nichts ausmachen.
Julian Barnes, Lebensstufen (orig. Levels of Life), Kiepenheuer & Witsch, 2013
by Filifjonka | Mar 15, 2016
Das Obergericht Zürich hat im Fall Bonstetten den Täter zu 18 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Der 61jährige Täter hatte seinen 5jährigen Sohn erst betäubt und dann erstickt, damit die Mutter ihn nicht nach Brasilien entführt; er hatte danach erfolglos versucht, auch sich selbst zu töten. Es verzichtet aber auf eine Verwahrung, berichten die Medien. Ach ja? Viel wichtiger aber: Hat es auch auf einen Regentanz verzichtet? Auf eine Schimpftirade? Ein Gebet, Sackhüpfen und eine Sylvester-Party?
by Filifjonka | Mar 15, 2016
Ich ging in ein Londoner Kino und sah mir eine Direkt-Übertragung von Glucks Orpheus und Eurydike aus New York an. Vorher machte ich meine Hausaufgaben und hörte mir das Stück mit dem Libretto in der Hand an. Und ich dachte: Das kann überhaupt nicht funktionieren. Einem Mann stirbt die Frau, und seine Klagen rühren die Götter, sodass sie ihm schliesslich erlauben, in die Unterwelt hinabzusteigen, seine Frau zu suchen und zurückzuholen. Allerdings gibt es eine Bedingung: Er darf sie nicht ansehen, bis beide auf die Erde zurückgekehrt sind, sonst ist sie für ihn auf ewig verloren. Während er sie aus der Unterwelt hinausführt, bringt die Frau ihn dazu, sich nach ihr umzusehen; und dann stirbt sie; und dann klagt er noch anrührender um sie und zieht sein Schwert, um Selbstmord zu begehen; und dann erweckt der Gott der Liebe, durch diese Demonstration der Gattenliebe gnädig gestimmt, Eurydike wieder zum Leben. Also wirklich, wer soll denn das glauben? Mein Problem war nicht das Auftreten oder das Verhalten der Götter – das konnte ich alles leicht hinnehmen; mein Problem war die Gewissheit, dass sich niemand, der einigermassen bei Sinnen ist, umdrehen und Eurydike ansehen würde, weil er sich über die Folgen im Klaren ist. Und als wäre das noch nicht genug, sollte die Rolle des Orpheus, ursprünglich ein Kastrat oder Kontratenor, aber heutzutage eine Hosenrolle, in dieser Inszenierung von einer beleibten Altistin gespielt werden. Aber ich hatte Orpheus, diese Oper, die geradezu perfekt auf die Leidtragenden zugeschnitten ist, ziemlich unterschätzt, und so tat die Kunst in diesem Kino wieder einmal ihr Wunderwerk. Natürlich musste Orpheus sich nach der flehenden Eurydike umdrehen – wie konnte es anders sein? Denn obwohl »niemand, der noch bei Sinnen ist« das tun würde, ist er vor Liebe und Leid und Hoffnung völlig von Sinnen. Man verliert die ganze Welt um eines Blickes willen? Aber klar doch. Dazu ist die Welt doch da: damit man sie unter den richtigen Umständen verliert. Ist es überhaupt denkbar, dass man sich an sein Gelübde halt, wenn man Eurydikes Stimme hinter sich hört?
Julian Barnes, Lebensstufen, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2015
Genau so ist es. Nur Buchhalter und Gartenzwerge können etwas anderes glauben. Nicht nur in der Kunst. Wie merkwürdig ist doch, was wir alles vom Leben “denken”, wie wir es “erfassen” oder “verstehen”, obwohl dem unseren Erfahrungen unmittelbar und fast vollständig widersprechen.
by Filifjonka | Mar 13, 2016
Eben am Radio gehört:
Vreni Schneider war vor 21 Jahren die letzte Schweizerin, die sich als Gesamt-Weltcup-Siegerin feiern konnte.
Traurig, das Leben einer Ski-Fahrerin. Da muss man sich selbst feiern, weil es kein anderer tut.
by Filifjonka | Mar 13, 2016
Die schwerste Strafe des schweizerischen Strafrechts, so hören wir in den letzten Tagen verschiedentlich in allen Medien (namentlich auch in Tagesschau und Nachrichten von SRF), sei die “lebenslange” (recte: die nicht überprüfbare) Verwahrung. Um sie zu verhängen, brauche es aber zwei Psychiater, die eine lebenslange Untherapierbarkeit prognostizierten.
Ach so! Endlich verstehen wir! Die Verwahrung ist nicht etwa eine Massnahme, sondern eine Strafe. Sie, und nicht etwa die lebenslängliche Freiheitsstrafe, ist die schwerste Strafe, die wir verhängen können. Sie unterscheidet sich von anderen “Strafen” nicht etwa dadurch, dass sie nicht überprüfbar ist, sondern durch ihre lebenslange Dauer. Und zuständig sind die Psychiater. Mich schaudert.
Was für eine Welt, in der sich mit offensichtlich und nachweislich vollständigem Blödsinn Geld verdienen lässt. Newspeak bzw. Doublespeak hat das im letzten Jahrhundert geheissen.
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