Schwächlinge

Eben war ich wieder einmal essen. Alleine. Chinesisch diesmal. Eine Gruppe junger Leute nebenan. Sie sprechen über Politik, Wirtschaft, Al Gore, Umweltpolitik. Sie sind laut. Und lachen viel. Das ist schön und verführerisch. Aber nichts von dem, was sie sagen, klingt wahrhaftig. Sie sagen intellektuelle Dinge und ich sehe ihre Augen, ihre Blicke. Die aber sagen: Wer schaut mich an? Wer mag mich? Mit wem könnte ich ins Bett? Was würden die anderen sagen, wenn sie es wüssten? Sie spielen ein Spiel. Wie immer, wenn Menschen zusammen sind. Das Spiel der Schwächlinge.

Und Du erkennst von Weitem das einzig Wichtige: Selbst wenn man sie physisch bedrohte, würden sie es hinnehmen. Würden sich ducken, sich drücken. Wer von ihnen würde für seine eigene Meinung aufstehen? Wer würde Dir helfen, wenn die anderen Dich verurteilen? Wer würde ein wenig Mut haben, oder weniger: ein bisschen Zivilcourage? Wer würde es wagen, nur schon Zweifel anzumelden? Wer, zu denken? Nur darum geht es eigentlich. Und es ist so offensichtlich, dass es Dich anspringt. Sie sind so unglaublich schwach. So unfassbar feige, hatte ich schreiben wollen, aber es ist nur Schwäche. Sie verdienen, beherrscht zu werden.

Solomon Asch, Stanley Milgram und Philip Zimbardo. Damit ist 90% der Interaktion erklärt. Der Rest ist Evolutionsbiologie (Richard Dawkins und die Seinen).

Ach, Immanuel! Eitel ist der Versuch, das zu ändern.

Zombieland

Gestern Abend bin ich über Land gefahren. Ich fuhr durch Herzogenbuchsee, durch Hellsau, Kirchberg, Hindelbank (diese Namen, diese Namen!) und viele andre mehr. Lange noch war es zur Mitternacht. Doch nirgends brannte Licht. In keinem Haus, keiner Wohnung, keinem Zimmer. Ich konnte es nicht glauben. Es musste doch Verliebte geben, die auf einen Anruf warten. Andere, vielleicht Glücklichere, mussten sich doch aneinander ergötzen. Und seien es auch wenige. Oder wenigstens Verzweifelte, die aus dem Fenster schauten auf den grossen, dunkelroten Mond, der zum Greifen nah das Dunkel erhellte. Aber nichts. Ein einziger grosser Friedhof.

Da wurde mir bewusst, dass ich gar streng gewesen war mit dem armen Zombieville. Ich erinnerte mich wieder, wie viele Male ich dies schon gesehen hatte. Und immer hat mich diese Ruhe erschreckt, diese Ordnung geängstigt. Die Gewalt dieser Ordnung schien mir so evident, dass ich nie auch nur den geringsten Zweifel daran hatte (auch wenn ich ihn jeweilen lächelnd äusserte, nicht zuletzt, um mich selbst zu trösten), dass in den Kellern dieser Häuser gefoltert wurde, dass dort Sklaven an Heizkörper gebunden und Kinder missbraucht wurden. Dass, … ach. Nicht Zombieville, Zombieland.

Merkwürdig

Während den meisten ein böses Wort, ein abschätziger Blick, eine gefühllose oder respektlose Geste leicht zu fallen scheinen, bringe ich all das kaum über mich, selbst wenn ich es wünschte. Umgekehrt wäre es mir wohl, anders als ihnen, ein Leichtes zu töten (ebenso aber auch, mein eigenes Leben hinzugeben), wenn die Umstände es nur verlangten oder als richtig erscheinen liessen.

Gewalt der Poesie

Egal wie viel wir gelesen haben mögen, egal wie sehr wir einen Menschen zu kennen vermeinen, stets entdecken wir Neues, stets überwältigt uns die Liebe, das Meer, unsere Existenz überhaupt. Die Frage ist einzig, ob wir uns darauf einlassen, ob wir es zulassen. Je näher wir uns selbst kommen, je mehr wir unsere Rüstungen niederlegen, unsere kindlichen Tröstungen und unbeholfenen Ausreden aufgeben, umso bedeutungsloser werden uns überkommene Kategorien und Strukturen. Da sie uns nichts mehr erreichen, nichts mehr anhaben können. Um so näher – so würden einige wohl sagen – kommen wir Gott. Dies ist der geheime Grund der anarchischen Potenz von Poesie und Liebe. Nie sind wir der Welt der Gartenzwerge gefährlicher. So gewalttätig ist der Moments indes, dass uns meist der Mut fehlt:

Einsicht

Noch ist alles möglich.
Wir haben uns flüchtig gestreift.
Der Rest: wahrscheinlich tödlich.
Die Kunst: dass man es begreift.

Wir sollten es dabei belassen.
Ein Hauch ist fast wie ein Kuss.
Sich lieben heisst auch sich verpassen.
Auf andere Art. Und Schluss.

Hans-Ulrich Treichel,
Seit Tagen kein Wunder, Gedichte, Frankfurt: Suhrkamp  1990