Milch kocht über

Ist es kindisch, wenn es mir besser geht, nur weil mein Computer wieder funktioniert, wie er sollte, das WLAN steht und das Internet fliegt? Wahrscheinlich. Aber offenbar bin ich recht kindisch. Und schäme mich nicht einmal wirklich dafür. Auch mein kleines, rotes Auto bereitet mir eine ganz unverhältnismässige Freude. Die sinnlichen Kleinigkeiten eben.

Einer meiner Lieblinge, Odo Marquard (*1928) hat das wunderbar beschrieben:

Die Menschen verzweifeln nicht, solange sie immer gerade noch etwas zu erledigen haben: die Milch am Überkochen zu hindern, den Zug in den nächsten Bahnhof zu fahren, das Baby zu füttern, zu Ende zu operieren, das termindringliche Förderungsgutachten zu schreiben, dem Ortsfremden Auskunft zu geben und so fort; dadurch (durch diese kleinen Aufhalter im Sinne des Mini-Kat-Echon) kommen die Menschen – und das ist richtig so –, durch Pensen aufgehalten, ständig zu spät zum Rendez-vous mit dem absoluten Nein.

Odo Marquard, Zur  Diätetik der Sinnerwartung, in:
Apologie des Zufälligen,  Philosophische Studien, Stuttgart 1986, 49.

Gerade dies aber, der kleinräumige, praktische Alltag, die Wiederholung, das Ersetzbare ist, was die Liebe nicht erträgt, die immer Schicksal ist, Katastrophe und Erlösung zugleich, die immer Rendez-vous ist mit dem Absoluten. In seinem Gedicht Heute formuliert das Jan Skácel (1922-1989) schön. Darin heisst es zum Schluss:

An einer Haltestelle
stehen wir beide allein und warten schon längst
nicht mehr auf Gottes Erbarmen bloss auf die Strassenbahn

Jan Skácel, Heute, in: Und nochmals die Liebe, Gedichte, Salzburg 1993

In diesem Spannungsfeld ist alles enthalten. Wer würde ein Leben wollen, das sich im Alltag erschöpft, in beherrsch- und vorhersehbarer Mechanik, wer würde Sinnlichkeit erstreben, die nicht mehr wäre als das? Stimmt schon: Nur Sinnlichkeit rettet uns vor der Verzweiflung. Indem sie uns zwingt, Äonen von Möglichkeiten, die unser Kopf, unser Herz, unsere Phantasie ersinnen, zugunsten einer Einzigen zu ermorden. Das ist das unabwendbar, unbeherrschbar Gewalttätige an und in ihr. Das uns erfasst und auffrisst, und wenn wir Glück haben, mit sich fortträgt. Das ist, was unsere bürgerliche Existenz zu Tode ängstigt und was sie deshalb mit allen Mitteln zu domestizieren und (weil das nicht möglich ist) zu eliminieren oder wenigstens zu vermeiden sucht. Der Konnex von Sinnlichkeit und Gewalt ist alles andere, als zufällig oder auch nur akzessorisch, sondern essentiell, kardinal. Sinnlichkeit ist Gewalt. Sie ist die Mörderin der Möglichkeiten, erbarmungslose Königin, strahlende Herrscherin, die mit einem Blick allein vernichtet, was ihre absolute Herrschaft auch nur in Frage stellt geschweige denn gefährdet.

Gleichzeitig aber ist diese Rettung vor dem Rendez-vous mit dem absoluten Nein immer nur eine vorübergehende, hebt sich auf im selben Moment, in dem sie gelingt. Ist flüchtig, ephemer und volatil. Dies ist der mystische Grund unserer durchgreifenden und nicht zu behebenden Trauer. Untröstlich sind wir. Immer und immer wieder. Und daher unersättlich. Post coïtum animal triste, aber nicht, weil wir müde wären, wie mancherorts behauptet wird (das sind wir wohl auch), sondern weil unser Weh nicht zu heilen ist. Und wir es erkennen. Weil wir nicht zu glauben vermögen, dass uns Gott verlassen hat. Dass wir alleine sind. Dass uns niemand beschützt hat. Damals. Und heute genauso.

Ich könnte hier eine Geschichte über das Meer anfügen. Und die Frauen. Aber es wäre nur eine Geschichte. Besser verständlich wird wohl, was ich meine, durch Sinnlichkeit selbst. G. F. Händels (1685-1759) Klaviersuite Nr. 7 g-moll, HWV 432, enthält als drittes Stück ein Allegro, das – richtig gespielt – einfach alles auffrisst, was sich in den Weg zu stellen wagt. Und wenn es endet, kann es gleich wieder beginnen. Richtig gespielt meint die Einspielung von Andrei Gavrilov (*1955). Im folgenden Video spielt er auf einem merkwürdig gestimmten, aber höchst sinnlichen Flügel. Sekundiert wird er von Sviatoslav Richter (1915-1997), dem nach Glenn Gould (1932-1982) wohl bedeutendsten Pianisten des 20. Jahrhundert. Das Video gibt die ganze Suite wieder, aber es setzt beim Allegro ein. Auf das Allegro folgt eine überaus zärtliche, fast gehauchte Sarabande, dann eine Gigue als Überleitung zur abschliessenden Passacaglia (leicht zu erkennen, welcher Teil des Liebesaktes das ist).

http://youtu.be/-3DEkPXDmJA?t=10m10s

Und für diejenigen, die kein Klavier mögen, als Alternative Aram Khatchaturians (1903-1978) Walzer aus der Masquerade Suite.

Abstraktion als Feigheit

Ich lese so langsam als möglich, doch das wunderbare Buch geht unausweichlich zu Ende. Nicht aber, ohne uns in unserer Skepsis der Abstraktion gegenüber zu unterstützen. Spricht Winston Churchill:

“Mister Knott, es gehört eine ordentliche Portion Tapferkeit dazu, ein getreu gegenständliches Bild zu malen! Abstraktion ist nur Feigheit, ist ein Kniefall vor der Vergänglichkeit, ist ein Anerkennen der Sinnlosigkeit des ewigen Ablaufs von Ursache und Wirkung. Wir dürfen nicht gemeinsame Sache mit dem Geistlosen machen! Geist haben nur wir. Es gibt sonst niemanden im Universum, der sich das Unvorstellbare vorstellen kann. – Genug geredet, Mister Knott, genug gesehen, genug gehört! Packen wir zusammen! Gehen wir!”

M. Köhlmeier, Zwei Herren am Strand, 242

Nachts um 2

Was tust Du nachts um 2, wenn alle schlafen?
Wachst Du noch? Betrinkst Du Dich?
Träumst Du? Erwachst Du?
Trunken noch vom Traum?
Oder ertrinkst Du darin?

I awoke in a fever
The bedclothes were all soaked in sweat
She said ‘You’ve been having a nightmare
And it’s not over yet’

R. Waters

Das Blinzeln der Seele

1 Nacht und 1 Tag und 1 Nacht habe ich geschlafen. Oder waren es zwei Jahre? Oder drei? Mehr oder minder am Stück. Und immer noch bin ich müde. Unsicher auf den Beinen. Taumelnd. Wackelig. Schwer sind meine Arme. Schwer meine Beine. Schwer mein Kopf. Und schwer mein Herz.

Wenn meine Seele müde ist, macht sie sich ganz klein, zieht sich zurück, versteckt sich und wird fast unsichtbar. In diesem Zustand versucht sie jeweils, die zu verletzen, die sie lieben. Nicht die anderen. Die bleiben bedeutungslos. Nur die sie lieben. Auch mich. Gerade mich. Ich liebe sie ja doch. Irgendwie. Sie schafft das eigentlich recht gut.

Auch das mit dem Verstecken. Ich verliere sie dann regelmässig. Weiss zwar, dass sie da sein muss, vermag sie aber nicht mehr zu finden. So winzig und unsichtbar, so unscheinbar und durchsichtig ist sie. Kaum zu unterscheiden von einem Schatten. Einem Blinzeln.

Findet Gott die verlorenen Seelen?

10 Fragen

  1. Hast du ein Liebstes?
  2. Hat es einen Preis?
  3. Würdest Du es hergeben?
  4. Wogegen würdest Du es eintauschen?
  5. Was würdest Du dafür tun, um es zu beschützen?
  6. Was nicht? Was wäre zuviel?
  7. Würdest Du es je fallenlassen?
  8. Was müsste geschehen, damit Du es fallenlässt?
  9. Würdest Du dafür töten?
  10. Würdest Du dafür sterben?