Der Tod wohne in uns, hatte ich gesagt, und dabei ganz vergessen, das schönste Gedicht hierzu auch nur zu erwähnen. Das sei hier nachgeholt: Rainer Maria Rilke, Das Buch der Bilder, 2. vermehrte Auflage 1906 (der Volltext findet sich hier), gemeint ist das “Schlußstück”:
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
Eine wahrhaftige Entdeckung habe ich zu vermelden. Michael Köhlmeier (*1949), den ich – zu meiner Schande muss ich es gestehen – bisher überhaupt nicht kannte, hat einen Roman geschrieben über die (tatsächlich verbürgte) Freundschaft zwischen Charlie Chaplin (1889-1977) und Winston Churchill (1874-1965). Ein herrliches Buch. Die beiden, die nicht viel gemeinsam haben, treffen sich per Zufall und werden Freunde. Sie sprechen dabei, beide von schweren Depressionen geplagt, v.a. über die unterschiedlichen Möglichkeiten, sich zu töten. Es finden sich hinreissende Passagen in dem Buch. Etwa, wenn der Vater des Autors seinem Sohn erklärt, wie man mit Traurigkeit umgehen soll:
Wenn ein Mensch sehr traurig ist, sagte er, sei es ratsam, dass er sich von sich selbst ablenke. Es gebe einige Begabte, denen gelinge es, so zu tun, als wären sie ein anderer; sie schauen sich selber an, schütteln den Kopf über sich selbst oder nicken beifällig, sie nehmen sich ernst, aber nicht allzu ernst; auf diese Weise gelinge es ihnen, ohne Schaden über die Traurigkeit hinwegzukommen. Die meisten Menschen aber sähen immer und überall in sich selbst nur sich selbst, was ja auch kein Wunder sei, sei man selbst ja man selbst. Diese könnten nicht so tun, als wären sie ein anderer, ihnen bleibe nichts anderes übrig, als so zu tun, als wäre ein anderer sie. Und das sei gar nicht so schwer. Am besten gelinge das, wenn man das Leben eines anderen nacherzähle. Churchill habe das Leben des 1. Duke of Marlborough nacherzählt, er erzähle das Leben Churchills nach.
Oder wenn das Kindermädchen mit Charlie Chaplin spricht:
»Für Menschen, wie wir welche sind«, sagte sie, »ist kein Glück reserviert. Weißt du, Kirschäuglein, das Schönste, was dem Menschen geschenkt werden kann, ist die Gnade. Und es ist das einzige zugleich. Alles andere ist Leckerei, die gleich weggeputzt ist. Wenn Leute reich sind, ist bewiesen, dass ihnen die Gnade geschenkt wurde. Wenn sie schön sind und schön bleiben über ihr Leben und sich alle zwei Jahre einen flotten Anzug kaufen können und in einem Restaurant nicht erst auf die rechte Seite der Speisekarte schielen, bevor sie bestellen, dann sind sie in der Gunst der Gnade. Und nun schau mich an und schau deine Mama an. Und schau dich an. Wie sehen wir aus? Und noch etwas musst du wissen, du bist ja dünn wie eine Hunder: Was einer werden kann, das ist er schon. Was willst du einmal werden ?«
Ja, ja. Was einer werden kann, das ist er schon. Wie weise doch Kindermädchen sein können. Unsere Potentialität definiert uns. Dies ist wohl auch der Grund, dass der Tod in uns wohnt.
Oder, nur dieses eine Beispiel noch, wenn Churchill ins Internat kommt und das lateinische Wort “mensa” deklinieren lernen soll, aber dabei erstmals auf den Vokativ trifft, der ihn verstört:
Was O Tisch! bedeutete, wusste er nicht.
»Es ist der Vokativ«, erklärte ihm der Direktor. »Du weißt also nicht, was der Vokativ ist?«
»Nein.«
»Man benützt den Vokativ in einem Gespräch mit dem Tisch. Wenn du mit dem Tisch sprichst oder ihn anrufst, zum Beispiel: O Tisch, bleib stehen! Dann musst du den Vokativ verwenden.«
»Aber ich spreche nicht mit Tischen«, sagte er, »und schon gar nicht, wenn sie sich bewegen.«
»O doch!«, beharrte der Direktor. »Wenn du die lateinische Deklination lernen willst, musst du dich auch herablassen und mit einem Tisch sprechen, und erst recht, wenn er sich bewegt.«
»Das will ich aber nicht.«
»Du musst! In dieser Schule musst du!«
“Zwei Herren am Strand” heisst das herrliche Buch, das dieses Jahr bei Hanser erschienen ist.
Kennst Du die Enigma-Variationen von Edward Elgar (1857-1934)? Natürlich! wirst Du sagen. Ich bin gerade zufällig (gibt es das?) wieder einmal darüber gestolpert. Darin findet sich eine Variation, die 9., Nimrod genannt, weil sie Elgars Freund August Jaeger gewidmet ist und Nimrod auch als grosser Jäger in die Legende einging. Kaum ein anderes Stück Musik gibt mir so sehr das Gefühl, das Eichendorff in der letzten Strophe seiner Mondnacht so umschreibt:
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus
Die Einspielungen sind Legion, aber hier findest Du eine besonders schöne mit Colin Davis und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.
Grosse Schönheit schmerzt. Immer. Und immer steht der Tod in ihrem Schatten. Scheint ganz, als wären die beiden irgendwie verwandt.
Selbst an unvermuteter Stelle (Heimito von Doderer ist nicht meine primäre Referenz) findet man Belege für das (meist negierte oder jedenfalls immunisierte) Offensichtliche:
Jedweder kleinste Hergang, wenn man ihn betrachtet, wird befremdlich und steht in neuem Licht, hält man seine Einmaligkeit sich vor Augen — daß nichts wiederkommt, diese Bedeutung kann auch das Bedeutungsloseste für sich in Anspruch nehmen, ebenso wie dies dem wirklich bedeutenden Vorgang erst seinen schmerzhaft-dunklen Hintergrund ganz verleiht — aber dies führt schon zu weit; gleichwohl, denke: deine Hand auf dem Wirtshaustisch, dort und dort, vor drei Jahren; oder dein Fuß vorgestern, auf dem Waldpfad. —
H. v. Doderer: Sieben Variationen über ein Thema von Johann Peter Hebel. Variation V, zu finden in: Doderer, Die Erzählungen, 4. Auflage, München: Beck 2006.
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