Gott liebt das Meer

Wir hatten von Scarlattis Sonate K87 gesprochen und der irritierenden Erkenntnis, dass Leiden immer nebenher geschieht. Dass überhaupt Leid existiert, dass es sich nicht verhindern und kaum lindern lässt, ist schwer erträglich.


Wenn die bestmögliche Schöpfung nur die best­mög­li­che ist und unvermeidlich Übel einschließt, warum hat Gott das Schaffen dann nicht bleiben lassen?

Odo Marquard: Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Phi­lo­sophie – in: Apologie des Zufälligen. Philosophie Studien. Stuttgart: Rec­lam 1987, 17


Leid aber ist unsere einzige stabile und zuverlässig Verbindung mit der Welt, unsere einzige Gewissheit. Denn der Tod, der doch so gewiss und mächtig scheint, ist ein Schwächling, vermag nichts, aber gar nichts gegen die Liebe. (Deshalb unsere Verpflichtung zur Liebe, solange wir dem Leben nicht den Rücken kehren. Hören wir aber auf zu lieben, so sind wir bereits tot, auch wenn wir es nicht immer bemerken.) Auch ist der scheinbar so allmächtige Tod manchmal einfach nicht da, schläft oder ruht sich aus, oder ist anderweitig beschäftigt. Und in diesen seltenen und kurzen Momenten sind wir tatsächlich unsterblich. An sie erinnern wir uns ein ganzes Leben lang.

Leid aber ist immer da, lässt sich nicht besiegen, nur lindern, wenn überhaupt. Unsere einzige Alternative zum Tod ist die Liebe, in der Liebe aber ist der Schmerz zuhause. Liebe muss nicht notwendig unglücklich sein, häufig aber ist sie es, zumindest wenn sie gross ist, da sie so überhaupt nicht in unsere kleine Zwergenwelt passt. Nicht weil sie selbst unglücklich macht, sondern weil sie unsere Verletzlichkeit steigert, denn nicht nur wir selbst sind dem Schmerz zugänglich (dagegen haben wir im Verlaufe der Jahre gelernt, uns einigermassen zu wappnen), sondern auch und vor allem das Geliebte, hier aber sind wir macht- und wehrlos. Und wie viel schwerer als selbst zu leiden, ist es doch, das Geliebte leiden zu sehen (ja, ja, ich weiss: Brel. Kommt gleich). Dass aber das Leid eine Nebensache sein sollte, selbst das Leid unseres Geliebten, ist nicht wirklich zu ertragen.

liebesgedicht

gleichgültig bleibt dem meer
der fischer der darin ertrinkt
dessen frau und freunde
die unbestellten felder
wie der weizen der verdirbt
die fortan vaterlosen kinder
wie der schmerz der zurückbleibenden
ob der sterbende zu überleben sucht
sich seinem schicksal weich ergibt
oder stille tränen weint
seine dumpfe klage ebenso wie
stummes beten wuterfülltes schrei’n
ob der tod in scharfer mittagssonne
sich erhebt in neblichten morgenstunden
oder weichem abendlichte
gott liebt den sturm der stille
und das meer

Gibt es keinen Ausweg? Natürlich! Den Tod. Und die Liebe? Du hast doch gesagt, die Liebe vermag alles, sogar den Tod zu besiegen. Ist die Liebe ein Ausweg? Natürlich nicht! Liebe ist die siamesische Zwillings-Schwester des Schmerzes, sich einer zu verschliessen, heisst sich auch der anderen zu verschliessen (dazu ein anderes Mal). Wie konnte ich nur vergessen, was ich offenbar vor langer Zeit schon wusste.


Ach ja, der versprochene Hinweis: Jacques Brel, Voir un ami pleurer:

Samael

Und wenn wir schon bei Engeln und Dämonen sind, so sei auch Samael erwähnt, ein Erzengel oder Dämon (man ist sich nicht einig, ob er gut ist oder schlecht), der Engel des Todes, der im siebten Himmel wohnt, aber Herrscher des fünften Himmels ist, wo er über zwei Millionen Engel gebietet, nach dem Talmud – wie sinnig für den Fürsten der Dunkelheit – auch er blind.

Metatron

Einst, vor langer Zeit, mindestens drei Leben ist es her, da kannte ich einen Mann, möglicherweise den kultiviertesten Mensch, den ich je kennengelernt habe. Fliessend Deutsch, Französich, Englisch, Italienisch und Spanisch, aber auch Griechisch und Arabisch, und einiges mehr. Mehrere Bilder von El Greco an den Wänden seiner Wohung, und einen arabischen Schild mit Einlegearbeiten so fein und perfekt ausgeführt, dass es einem den Atem verschlug. Kein Wunder, dass ihm das Nationalmuseum verschiedentlich schon unglaublich hohe Preise dafür geboten hatte. Kennengelernt hatte ich ihn in meiner (und seiner) Lieblingsbuchhandlung, einer ehemals für ihre Bedeutung für den antifaschistischen Widerstand berühmten Institution. Manches Weihnachtsfest haben wir zusammen bei unserer Buchhändlerin gefeiert, die jeweils für die Feiertage alle ihre Kunden einlud, die sonst alleine gewesen wären. Dieser Mann, nun schon lange tot, weil schwul und HIV-positiv zur falschen Zeit, hatte mir von Metatron erzählt, einem Erzengel der jüdischen Mythologie, dem Höchstrangige Engel nach Gott, „Statthalter des Himmels“ und „König der Engel“, und mich danach gefragt, ob ich ein Gedicht über ihn kenne. Dieses Gedicht nun hatte ich verloren im Dunkel der Zeit und viele Jahre gesucht. Vor ein paar Tagen nun habe ich es, oder besser: hat es mich wiedergefunden. Hier ist es:

metatron

er sieht nicht

was er von den ungerecht verlassnen
nimmt die nutzlos warten nächtelang
neben einem telephon vom alten dem
heut in der früh die katze überfahren von den kindern
die sich mühn die verbrühten rücken zu verstecken
von den frauen die um ihre männer weinen
die sie doch geschlagen haben

in leuchtend transparentem antlitz
das gewoben scheint aus feinsten silberfäden
starren seine leeren augenhöhlen stumm
dieweil er ruhig seine arbeit tut
was seine hand indessen fasst und von
den geschundnen nimmt aus deren mund
blauschwarze blumen wachsen immerfort

er sieht es nicht das leid

das er seinem herrn
in die krone flicht

Ach ja, ich vergass, das Interessanteste zu erwähnen: Metatron hat nicht nur die Aufgabe, den Willen Gottes an die Propheten, Engel und Dämonen zu übermitteln, seine wichtigste Aufgabe (über die sich kaum etwas findet) ist, das Leid der Menschen, die zu Gott kommen, von ihnen zu nehmen und Gott aufzuladen. Und damit er das überhaupt ertragen kann, ist er blind.


Eher humoristisch angemerkt sei, dass die englisch-sprachige Wikipedia ausdrücklich darauf hinweist, dass Metatron nicht zu verwechseln sei mit Megatron, einer Figur aus den Transformers-Filmen, dessen Eintrag verdienterweise sechs Mal umfangreicher ausfällt.

Ubique naufragium

Wir haben bereits Fred Uhlman und seine Feststellung zitiert:

Sub specie aeternitatis we all, without exception, are failures.

Eine ganz ähnliche Feststellung findet sich bei Petronius Arbiter 2000 Jahre zuvor († 66, Selbstmord) in seinem Satyricon:

Si bene calculum ponas, ubique naufragium est.

Sinngemäss also: Wenn Du genau hinschaust, ist überall Schiffbruch. Der lateinische Volltext des Satyricon findet sich hier, lat. Text und auszugweise deutsche Übersetzung (allerdings ohne die hier interessierende Passage, die aus CXV stammt) hier.

Menschen abholen

holt die Menschen dort ab, wo sie sind” ergibt bei einer wörtlichen Google-Suche eindrücklich viele Ergebnisse. Zu denen, die solches tun, gehören die Salesianische Pädagogik, die Kirche, Erdogan, aber auch Gott selbst. Wir sind beruhigt, wenn auch nicht beeindruckt. Beeindruckt werden wir erst sein, wenn die Menschen dort abgeholt werden, wo sie nicht sind.