Sicherheit vor wem?

Ein Traum aus dem Traumtagebuch von Graham Greene:

The U.S.S.R.

I was walking with four companions through Moscow at night, but a KGB car frightened my friends ands they left me alone. I thought it best to go up to the KGB officers of my own accord and ask the way to the Europa Hotel. The officers said, «Get in the car. We’ll take you there.» At the hotel someone brought a high-chair for the second officer, and I could see now that he was a dwarf. I asked im why people were not allowed in the streets at night. He replied, «We want the streets to be safe.» I said, »Safe from whom, if nobody’s allowed in them?» He admitted that I had a point there he hadn’t thought of.

Graham Greene. A World of My Own, London: Reinhardt Books 1992, 91.

A propos Zeit verprassen

Kennst Du das vielleicht schönste Gedicht von August von Platen (1796-1835), dem lebenslangen Intimfeind Heinrich Heines (1797-1856), eine Feinschaft, die sogar einen Namen hat, die Platen-Affaire? Nein? Hier ist es:

Wer wußte je das Leben recht zu fassen,
Wer hat die Hälfte nicht davon verloren
Im Traum, im Fieber, im Gespräch mit Toren,
In Liebesqual, im leeren Zeitverprassen?

 

Ja, der sogar, der ruhig und gelassen,
Mit dem Bewußtsein, was er soll, geboren,
Frühzeitig einen Lebensgang erkoren,
Muß vor des Lebens Widerspruch erblassen.

 

Denn Jeder hofft doch, daß das Glück ihm lache,
Allein das Glück, wenn’s wirklich kommt, ertragen,
Ist keines Menschen, wäre Gottes Sache.

 

Auch kommt es nie, wir wünschen bloß und wagen:
Dem Schläfer fällt es nimmermehr vom Dache,
Und auch der Läufer wird es nicht erjagen.

Aus. Platen, Werke in zwei Bänden. Band 1: Lyrik. München 1982, 398-399

Political Correctness

Was ich auf dem Netz finde: Eine Liste mit 10 offenbar «klassischen» Büchern, die bei ihrer Publikation schlechte Kritiken erhielten (so der Titel des Beitrages). Die Liste besteht aus:

  1. Vladimir Nabokov: Lolita
  2. Emily Brontë: Wuthering Heights
  3. John Steinbeck: Grapes of Wrath
  4. J.R.R. Tolkien: Lord of the Rings
  5. Maurice Sendak: Where the Wild Things Are
  6. Mark Twain: Adventures of Huckleberry Finn
  7. James Joyce: Ulysses
  8. Gustave Flaubert: Madame Bovary
  9. Kate Chopin: Awakening
  10. Hermann Melville: Moby Dick

Und ich habe nur eine Frage: Wer zum Teufel ist Kate Chopin? Erst wenn ich auf Wikipedia nachschaue, verstehe ich:

Kate Chopin (/ˈʃpæn/, also US: /ʃˈpæn, ˈʃpən/; born Katherine O’Flaherty; February 8, 1850 – August 22, 1904) was an American author of short stories and novels based in Louisiana. She is now considered by some scholars to have been a forerunner of American 20th-century feminist authors of Southern or Catholic background, such as Zelda Fitzgerald, and is one of the most frequently read and recognized writers of Louisiana Creole heritage.

Wie schön. Kate Chopin zwischen Gustave Flaubert und Hermann Melville.

Berlin 1919

Oh sieh doch nur, wie frei wir heute sind.

Meine Hauptinformationsquelle blieben für mehrere Wochen der gehrocktragende Direktor des Adlon, der Kellner, der mir den Tip mit Liebknechts großer Stunde im Schlafzimmer der Hohenzollem gegeben hatte, und eine Gruppe homosexueller Flieger, die ich in einem Offiziersclub kennengelernt hatte. Es waren elegante Burschen, parfümiert und mit Monokel versehen und gewöhnlich voller Heroin oder Kokain. Sie liebten sich wechselseitig ganz offen, küssten sich in Cafe-Nischen und verdrückten sich etwa um zwei Uhr nachts in ein Haus, das einem von ihnen gehörte. Eine oder zwei Frauen befanden sich gewöhnlich in der Gesellschaft – breitmündige, dunkeläugige Nymphomaninnen mit adligen Titeln vor ihren Namen, doch mit unedlen Leidenschaften und Ausschnitten an ihren Flanken. Gelegentlich wurden der Haus-Gesellschaft kleine Mädchen von zehn oder elf Jahren zugeführt, die man vom Pflaster der Friedrichstraße rekrutierte, wo sie nach Mitternacht mit harten Gesichtern in polierten Stiefeln und kurzen Kinderkleidern paradierten.

So der Auszug aus dem Bericht von Ben Hecht im Jahr 1919. Schwer vorstellbar heute. Die gesamte Bagage wäre im Gefängnis, so kleinräumig und umfassend haben wir die Kontrollen eingerichtet.

Ben Hecht, Revolution im Wasserglas. Geschichten aus Deutschland 1919 (Auszug aus den Memoiren: A Child of the Century, 1954),  2. Auflage, Berenberg: Berlin 2014, 13 f.

Gruppenbildung

La caprice du numérotage m’avait placé au côté d’une petite fille, dix onze ans, pourvue d’un de ces écriteaux blancs informant que l’enfant voyageait non accompagnée. Je n’y pris pas garde. Moi-même je voyageait non accompagné. On nous avait sans doute regroupé pour plus de commodité.

Jean-Claude Grumberg, Mon père. Inventaire, Paris  2003, 133 f.

Abstrakte Liebe

Nicht einmal in der privaten Sphäre entstehen Morde aus Antipathie, kommt Frieden aus der Genauigkeit der Einander-Kennens. Im Gegenteil: Menschen sind nicht so, dass es ihrem Verhältnis zueinander guttut, sich genau zu kennen. Daher liebt es sich so gut im Abstrakten. Wann hätte je die berüchtigte ‘unüberwindliche Abneigung’ den Gattenmord produziert? Eher die unüberwindliche Zuneigung zu einem virtuellen Gatten.

Hans Blumenberg: Man auch nicht mögen dürfen, in: Hans Blumenberg/Carl Schmitt: Briefwechsel 1971-1978 und weitere Materialien, Suhrkamp 2007.